»Jetzt wollen wir frühstücken gehen, es ist zwölf Uhr schon vorüber.«
Und sie gingen in ein benachbartes Restaurant. Duroy war ganz still geworden. Er zwang sich zu essen, damit es nicht aussehen sollte, als ob er Angst hätte; dann ging er mit Boisrenard im Laufe des Tages in die Redaktion und tat zerstreut und mechanisch seine Arbeit; alle fanden ihn sehr mutig. Spät am Nachmittag kam Jaques Rival zu ihm, und sie verabredeten, daß Duroy von seinen Sekundanten am nächsten Morgen um sieben Uhr abgeholt werden sollte, um nach Bois du Vésinet zu fahren, wo das Duell stattfinden sollte.
Das war alles so unerwartet gekommen, so ganz ohne seine Teilnahme, ohne daß er ein Wort gesprochen hatte, ohne daß er seine Meinung äußerte, ohne daß er etwas annehmen oder verweigern konnte, und mit solch einer Geschwindigkeit, daß er verlegen und verwirrt blieb, ohne recht zu wissen, was vorging.
Er speiste mit Boisrenard und ging dann gegen neun Uhr abends nach Hause. Sobald Duroy allein war, ging er einige Zeit mit großen, lebhaften Schritten in seinem Zimmer auf und ab. Er war zu aufgeregt, um an etwas zu denken. Ein einziger Gedanke füllte ihn aus:
— Morgen ein Duell — ohne daß diese Vorstellung in ihm etwas anderes erweckte, als eine gewisse, starke Erregung. Er war Soldat, er hatte auf die Araber geschossen, allerdings ohne große persönliche Gefahr, so wie man auf der Jagd auf ein Wildschwein schießt.
Schließlich hatte er gehandelt, wie er handeln mußte. Er hatte sich so gezeigt, wie er sollte. Man würde von. ihm sprechen, ihn loben — ihn beglückwünschen. Dann sprach er laut vor sich hin, wie man in großer, seelischer Erregung spricht:
»Was für ein Vieh ist dieser Mensch!«
Er setzte sich und begann nachzudenken. Er betrachtete die Visitenkarte seines Gegners, die ihm Rival gegeben hatte, damit er seine Adresse behielt. Zum zwanzigstenmal las er: Louis Langremont, 176, Rue Montmartre. Weiter nichts.
Er betrachtete diese Buchstaben, die ihm geheimnisvoll vorkamen, die ihn beunruhigten. »Louis Langremont.« Wer war dieser Mann? Wie alt? Welcher Gestalt? Welches Gesicht? War es nicht empörend, daß ein Fremder, ein Unbekannter ohne jeden Grund sein Leben zerstören konnte, nur durch die Laune einer alten Frau, die sich mit ihrem Schlächter gezankt hatte. Und er wiederholte nochmals: »Was für ein Vieh!«
Und mit einem starren Blick guckte er die Karte an. Ein Zorn gegen dieses Stück Papier erfüllte ihn, ein Zorn, in den sich ein seltsames, banges Gefühl einmischte. Diese Geschichte war zu dumm. Er ergriff eine herumliegende Nagelschere und stieß damit mitten in den gedruckten Namen, als ob er ihn damit erdolchen wolle. Also, er sollte sich schlagen, und zwar mit Pistolen. Warum hatte er nicht den Degen gewählt? Er wäre dann auf alle Fälle mit einer leichten Verwundung davongekommen, während man bei einer Pistole nie im voraus wissen konnte.
»Ich muß fest bleiben«, sagte er.
Der Klang seiner Stimme erschreckte ihn, und er blickte sich um. Er trank ein Glas Wasser und ging zu Bett. Er löschte das Licht und schloß die Augen.
Er konnte nicht einschlafen, es war ihm heiß unter seiner Decke, obwohl es im Zimmer sehr kalt war.
Er hatte Durst.
»Sollte ich mich etwa fürchten?« dachte er, indem er aufstand, um Wasser zu trinken.
Warum klopfte sein Herz so wild bei jedem bekannten Geräusch in seinem Zimmer? Wenn seine Kuckucksuhr schlug, fuhr er beim leisen Knarren der Feder jedesmal zusammen; er fühlte sich beengt und mußte ein paar Augenblicke den Mund öffnen, um Luft zu bekommen.
»Sollte ich Angst haben?« begann er zu philosophieren.
Nein, sicher hatte er keine Angst, denn er war entschlossen, bis zum Ende zu gehen, da er den festen Willen hatte, zu kämpfen ohne zu zittern. Aber er fühlte sich so tief erregt, daß er sich fragte: »Kann man trotz seines Willens Angst haben?« Und dieser Zweifel, diese schreckliche Befürchtung ergriff ihn. Wenn diese Macht stärker als sein Wille war, ihn gewaltig und unwiderstehlich lähmte, was würde dann geschehen? Ja, was konnte dann passieren?
Sicher würde er auf den Kampfplatz gehen, weil er das wollte. Aber wenn er zittern würde? Wenn er besinnungslos würde?
Und er dachte über seine Stellung, über seinen Ruf, über seine Zukunft nach.
Und ein merkwürdiges Verlangen, aufzustehen und in den Spiegel zu schauen, überkam ihn. Er zündete das Licht an. Als er sich in dem Spiegel beobachtete, kam er sich ganz fremd vor, und es war ihm; als hätte er sich nie gesehen. Seine Augen kamen ihm riesig vor und er war blaß, blaß, sicher sehr blaß.
Blitzschnell ging ihm ein Gedanke durch den Kopf: »Morgen um diese Zeit bin ich vielleicht schon eine Leiche!« Und sein Herz begann rasend zu klopfen.
Er ging zu seinem Bett und sah sich, auf dem Rücken liegend, unter derselben Decke, die er eben verlassen hatte. Er hatte das hohle Gesicht eines Toten und seine Hände lagen weiß und unbeweglich da.
Eine Furcht vor seinem Bett ergriff ihn und, um es nicht mehr zu sehen, öffnete er das Fenster und guckte hinaus. Die kalte Nachtluft ließ seinen ganzen Körper zittern und schwer atmend wich er vom Fenster zurück.
Es fiel ihm ein, Feuer zu machen. Er schürte es langsam an, ohne sich umzudrehen. Seine Hände zitterten nervös, wenn er einen Gegenstand anfaßte. Sein Kopf brannte, seine Gedanken waren schmerzhaft und verworren. Er fühlte sich berauscht, als ob er Wein getrunken hätte, und immerfort fragte er sich: »Was soll ich tun? Was soll aus mir werden?«
Er begann wieder auf und ab zu gehen, ununterbrochen, mechanisch.
»Ich muß energisch sein, sehr energisch.«
Dann sagte er sich: »Ich muß an meine Eltern schreiben, für den Fall, daß mir etwas passiert.«
Er setzte sich wieder hin, nahm einen Bogen Papier und schrieb. »Lieber Papa, liebe Mama …«
Aber diese einfache Anrede fand er zu vertraulich, bei einem so tragischen Vorfall. Er zerriß das erste Blatt und begann von neuem:
»Mein lieber Vater, meine liebe Mutter. Mit Tagesanbruch habe ich ein Duell, und da es geschehen kann, daß …«
Hastig stand er auf und traute sich nicht weiter zu schreiben.
Dieser Gedanke zerschmetterte ihn: »Ich werde ein Duell haben.« Es war unvermeidlich. Was ging nun in ihm vor? Er wollte sich schlagen; diese Absicht war fest; und trotzdem schien es ihm, als hätte er nicht einmal so viel Willenskraft, um zum Kampfplatz zu gehen. Von Zeit zu Zeit klapperten seine Zähne mit leisem, hartem Geräusch und er fragte sich: »Ob mein Gegner schon ein Duell gehabt hat? Ist er ein guter Schütze? Ist er als solcher bekannt und geschätzt?« Er hatte nie seinen Namen gehört. Aber wenn dieser Mann kein guter Pistolenschütze wäre, würde er kaum ohne weiteres, so ohne jedes Zaudern diese gefährliche Waffe annehmen.
Dann malte sich Duroy ihr Zusammentreffen aus, die Haltung seines Gegners und seine eigene. Er zermarterte sich das Gehirn mit den geringsten Einzelheiten des Kampfes, und plötzlich sah er vor seinem Gesicht das kleine schwarze Loch des Pistolenlaufes, aus dem die Kugel kommen würde.
Und plötzlich ergriff ihn eine furchtbare Angst, er bekam einen Anfall wilder Verzweiflung. Sein ganzer Körper zitterte und bebte. Er preßte die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Er hatte ein Bedürfnis, sich auf der Erde zu wälzen, etwas zu beißen, zu vernichten.
Er bemerkte plötzlich ein Glas auf seinem Kamin, und es fiel ihm ein, daß er in seinem Schranke eine fast volle Flasche Schnaps stehen hatte, denn noch von seiner Soldatenzeit her hatte er die Gewohnheit, jeden Morgen ein Gläschen zu trinken.
Er ergriff die Flasche, setzte sie an den Mund und trank gierig, in langen Zügen. Er stellte sie erst hin, als ihm der Atem ausblieb. Sie war zum Drittel leer. Eine glühende Hitze verbrannte ihm plötzlich den Magen, ergoß sich durch seine Glieder, und durch die Betäubung bekam er neuen Mut.
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