Sie schwieg und Duroy fragte:
»Ist das alles?«
»Das ist die ganze Wahrheit, mein guter Herr.«
Die Alte bot ihm ein Glas Johannisbeerwein an, das er jedoch dankend ablehnte, und verlangte, daß das Falschwiegen des Schlächters in dem Bericht erwähnt wurde. Sie kehrten auf die Redaktion zurück, und Duroy schrieb folgende Erwiderung:
»Ein anonymer Schmierer aus der Feder scheint mit mir Streit zu suchen wegen einer alten Frau, die nach seiner Behauptung von einem Agenten der Sittenpolizei verhaftet worden ist. Ich bestreite das. Ich war persönlich bei dieser Frau Aubert, die mindestens sechzig Jahre alt ist. Sie hat mir selbst genau über ihren Streit mit dem Schlächter, der ihr die Koteletts angeblich falsch gewogen hätte, erzählt, worauf beide vor den Polizeikommissar geführt wurden.
Das ist die ganze Wahrheit.
Was die übrigen Verdächtigungen des Redakteurs der Feder angeht, so übergehe ich sie mit tiefster Verachtung. Man antwortet grundsätzlich nicht auf solche Dinge, wenn sie anonym sind.
Georges Duroy.«
Herr Walter und Jaques Rival, die soeben erschienen, fanden beide die Notiz vollkommen ausreichend, und es wurde beschlossen, daß sie am selben Tage an den Schluß der Lokalnachrichten gesetzt würde.
Duroy ging frühzeitig nach Hause, er war erregt und unruhig. Was würde der andere antworten? Wer konnte es sein? Wozu dieser schamlose Angriff? Bei der rücksichtslosen Art der Journalisten konnten aus dieser dummen Geschichte böse, sehr böse Folgen entstehen. Er schlief schlecht. Als er am nächsten Morgen die Notiz in der Zeitung las, fand er sie gedruckt viel herausfordernder und aggressiver als im Manuskript. Er hätte, so schien es ihm, gewisse Ausdrücke mäßigen können.
Den ganzen Tag über war er wie im Fieber und schlief auch die folgende Nacht schlecht.
Er stand beim Morgengrauen auf, um sich die Nummer der Feder zu kaufen, die die Antwort auf seine Entgegnung bringen sollte.
Es war wieder kälter geworden; es fror. Das Wasser in den Rinnsteinen war gefroren, es schien aber, als fließe es und bildete um die Bürgersteige Eisbände.
Die Zeitungen waren bei den Händlern noch nicht zu haben, und Duroy entsann sich jenes Tages, als zum ersten Male seine »Erinnerungen eines afrikanischen Jägers« erschienen waren. Hände, Füße und namentlich die Fingerspitzen schmerzten ihn vor Kälte und er begann im Kreise um den Kiosk herumzulaufen, in dem die Verkäuferin über ihren kleinen Ofen gebückt saß, so daß nichts weiter zu sehen war als die Nasenspitze und ein paar rote Backen unter einer wollenen Kapuze.
Endlich schob der Zeitungsträger den dicken Ballen durch die Öffnung und Duroy erhielt sofort seine Feder.
Mit raschen Blicken suchte er zunächst seinen Namen, fand aber anfangs nichts. Schon wollte er erleichtert aufatmen, da sah er eine Notiz zwischen zwei fetten Strichen:
»Herr Duroy von der Vie Française will uns berichtigen und lügt dabei selbst. Er gibt wenigstens zu, daß eine Frau Aubert tatsächlich existiert und daß ein Beamter sie zum Polizeirevier gebracht hat. Er braucht hinter dem Wort ‘Beamter’ noch die zwei Worte ‘der Sittenpolizei’ hinzuzufügen und die Sache ist richtig. Aber leider ist es mit der Ehrlichkeit einiger Journalisten gerade so weit her wie mit ihrem Talent. Hiermit zeichne ich:
Louis Langremont.«
Georges Herz klopfte heftig, und er ging nach Hause, um sich umzuziehen, ohne recht zu verstehen, was er eigentlich tat. Also, man hatte ihn beschimpft, und zwar derart, daß es kein Zurück mehr gab. Und warum? Wegen nichts. Wegen einer alten Frau, die sich mit ihrem Schlächter gezankt hatte. Er zog sich rasch an und begab sich sofort zu Herrn Walter, obgleich es kaum acht Uhr war. Herr Walter war schon auf und las die Feder.
»Nun ja«, sagte er mit einem ernsten Gesicht, als er Duroy erblickte. »Sie können nicht mehr zurück.«
Der junge Mann erwiderte nichts, und der Chef fuhr fort:
»Suchen Sie sofort Rival auf, er wird Ihre Interessen vertreten.«
Duroy murmelte ein paar unverständliche Worte und ging direkt zu Jaques Rival, der noch schlief.
Als es klingelte, sprang er aus dem Bett und las schnell die Notiz.
»Verdammt,« rief er, »da müssen wir ran.. Wen werden Sie als zweiten Sekundanten wählen?«
»Ich weiß das wirklich nicht!«
»Boisrenard? — Was meinen Sie?«
»Gut, Boisrenard.«
»Sind Sie ein guter Fechter?«
»Gar nicht!«
»Verflucht! Und wie steht es mit dem Pistolenschießen?«
»Schießen kann ich etwas.«
»Gut. Sie werden sich üben, während ich mich mit allem weiteren befasse. Warten Sie eine Minute.«
Er ging in sein Ankleidezimmer und kam bald gewaschen, rasiert und in eleganter Toilette zurück. »Kommen Sie mit!« sagte er.
Er wohnte im Erdgeschoß eines kleinen Hauses und führte Duroy in den Keller hinab, einen riesigen Keller, der in einen Fecht-und Schießplatz umgewandelt war. Sämtliche Öffnungen nach der Straße hatte er verstopfen lassen. Er zündete eine Reihe Gasflammen an, die bis zum Ende des zweiten Kellers reichten. Im Hintergrunde stand eine eiserne, blau und rot angemalte Figurenscheibe eines Mannes. Dann legte er zwei Pistolen nach dem neuesten Hinterladersystem auf den Tisch und begann mit kurzer, scharfer Stimme zu kommandieren wie auf dem Kampfplatz:
»Fertig?
Feuer — eins — zwei — drei!«
Duroy gehorchte willenlos; er hob den Arm, zielte, schoß, und da er die Puppe mehrmals in den Bauch traf, denn er hatte in seiner Kindheit oft mit einer alten Sattelpistole seines Vaters auf die Spatzen im Hof geschossen, so erklärte Jaques Rival befriedigt:
»Gut — sehr gut — sehr gut — es wird gehen. Schießen Sie so bis Mittag. Hier liegen Patronen. Haben Sie keine Angst, sie zu verbrauchen. Ich hole Sie zum Frühstück ab und teile Ihnen alles Nähere mit.«
Und er verschwand.
Duroy blieb allein; er schoß noch ein paarmal, dann setzte er sich hin und begann nachzudenken. Wie töricht war doch die ganze Geschichte. Was bewies ein Duell? War ein Schuft kein Schuft mehr, wenn er sich geschlagen hatte? Was hatte ein beleidigter Ehrenmann davon, sein Leben gegen einen Gauner aufs Spiel zu setzen? Seine Gedanken schweiften im Dunkeln herum, und er dachte daran, was Norbert de Varenne ihm von der Geistesarmut der Menschen, von der Beschränktheit ihres Gesichtskreises und von ihrer törichten Kindermoral gesagt hatte.
Und er sagte ganz laut: »Wahrhaftig, er hatte recht.«
Dann verspürte er Durst; er hörte hinter sich Wasser tropfen, erblickte einen Duschapparat und ging hin, um aus der hohlen Hand zu trinken. Dann verfiel er wieder in Gedanken. Es war so trübe hier im Keller, so düster und traurig wie in einem Grab, und das ferne, dumpfe Rollen der Wagen hörte sich an wie das Nahen eines Sturmes. Wie spät mochte es sein? Die Stunden verstrichen hier unten, wie sie in einem Gefängnis verstreichen mußten, ohne daß irgendein anderes Zeichen ihren Wechsel ankündet, außer dem Erscheinen des Kerkermeisters, der das Essen bringt. Und so wartete er sehr lange.
Plötzlich hörte er Stimmen und Schritte und Jaques Rival erschien in Begleitung von Boisrenard. Sobald er Duroy erblickte, rief er:
»Alles in Ordnung.«
Duroy glaubte zunächst, die Angelegenheit sei durch einen Entschuldigungsbrief beigelegt; er atmete erleichtert auf und stammelte:
»Ah … ich danke Ihnen.«
Rival fuhr fort:
»Der Langremont scheint einen dicken Kopf zu haben, er hat alle unsere Bedingungen angenommen. Fünfundzwanzig Schritt, einmaliger Kugelwechsel mit Aufheben der Pistole. Man hat dann viel mehr Sicherheit im Arm als beim Senken der Waffe. Geben Sie acht, Boisrenard, was ich Ihnen gesagt habe.«
Er ergriff eine Pistole und schoß, während er dem anderen auseinandersetzte, um wieviel sicherer man zielen konnte, wenn man die Pistole hob. Dann sagte er:
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