Sie fragte nochmals:
»Wollen wir nach der ‘Weiße Königin’ gehen? Das wäre die Krone dieses Abends.«
Er dachte: »Ach was, was geht mich ihre Vergangenheit an? Es ist einfach dumm, mich darüber aufzuregen!«
Er antwortete lächelnd:
»Aber gewiß, mein Liebling.«
Auf der Straße sagte sie ganz leise in jenem geheimnisvollen Ton, in dem man Geheimnisse zu sagen pflegt:
»Bisher wagte ich nicht, dich darum zu bitten. Aber du ahnst nicht, wie gern ich solche Junggesellenausflüge nach solchen Lokalen mitmache, wo Damen eigentlich nicht hingehen dürfen. Während des Karnevals werde ich mich als Student verkleiden. Dieses Kostüm steht mir fabelhaft.«
Als sie das Ballokal betraten, schmiegte sie sich erschrocken und doch vergnügt an ihn. Sie betrachtete entzückt die Kokotten und die Zuhälter, und als wollte sie sich über eine etwaige Gefahr beruhigen, sah sie sich hin und wieder nach dem ernsten, unbeweglichen Polizisten um und sagte: »Der Mann sieht zuverlässig aus.« Nach einer Viertelstunde hatte sie genug und er führte sie nach Hause.
Nun begann eine Reihe von Ausflügen in alle möglichen verdächtigen Lokale, wo sich das einfache Volk amüsiert, und Duroy überzeugte sich mehr und mehr, wie begeistert seine Geliebte für solche Bummelfahrten nach Studentenart war.
Das folgende Mal kam sie zu dem gewöhnlichen Stelldichein in einem Leinenkleid mit einer Haube auf dem Kopf, wie sie die Dienstmädchen tragen. Trotz der gesuchten Schlichtheit ihrer Toilette hatte sie aber ihre Ringe, Armbänder und Brillantohrringe anbehalten. Als er sie bat, diese abzutun, erwiderte sie: »Ach was, man wird sie für Rheinkiesel halten!« Sie fand ihre Verkleidung großartig, und obwohl sie sich tatsächlich nicht besser versteckte als der Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt, besuchte sie ruhig die Kneipen von übelstem Ruf,
Sie wollte, daß Duroy sich auch als Arbeiter anzöge.
Er ging aber darauf nicht ein, behielt seinen eleganten Straßenanzug an und wollte nicht einmal seinen Zylinder gegen einen weichen Filzhut eintauschen.
Sie hatte sich über seinen Eigensinn mit der Begründung hinweggetröstet: »Man wird mich für ein Kammermädchen halten, das ein Verhältnis mit einem jungen Lebemann hat«, und diese Komödie fand sie herrlich.
Sie kamen in die gewöhnlichsten Kneipen, saßen in den verräucherten Spelunken auf wackligen Stühlen und vor schmutzigen, alten Tischen. Scharfer Tabaksqualm und widriger Küchengeruch von gebackenem Fisch erfüllte die Luft. Männer in Arbeiterblusen brüllten und tranken Schnäpse, und der Kellner betrachtete erstaunt das seltsame Paar, dem er zwei Kirschenschnäpse hinstellte.
Sie zitterte vor Angst und Entzücken, schlürfte den roten Saft mit kleinen Schlucken und sah dabei mit weit geöffneten, funkelnden Augen um sich. Bei jedem Schnaps, den sie hinunterschluckte, hatte sie das Gefühl, als begehe sie ein Verbrechen, und jeder Tropfen der brennenden, gepfefferten Flüssigkeit, der über ihre Zunge rann, gewährte ihr ein scharfes und aufregendes Vergnügen, den sündhaften Genuß einer verbotenen Frucht. Dann sagte sie halblaut: »Komm, wir wollen gehen.« Und sie brachen auf. Mit niedergeschlagenen Augen und zierlichen Schritten ging sie rasch wie eine Schauspielerin mitten durch die Trinker, die mit aufgestemmten Armen dasaßen und ihr mißtrauisch und unzufrieden nachsahen. Wenn sie die Schwelle überschritten hatte, atmete sie gewöhnlich tief auf, als wäre sie glücklich irgendeiner furchtbaren Gefahr entronnen.
Bisweilen richtete sie an Duroy zitternd die Frage: »Was tätest du, wenn man mich in so einem Lokal belästigte?«
»Natürlich würde ich dich beschützen!« erwiderte er energisch.
Sie preßte glücklich seinen Arm an sich, vielleicht in dem unklaren Wunsch, beleidigt und dann beschützt zu werden, Männer sich ihretwegen schlagen zu sehen, und sei es, daß ihr Geliebter sich mit solchen Männern wie die da, prügeln würde.
Aber diese Ausflüge, die sich zwei-dreimal die Woche wiederholten, begannen Duroy schließlich etwas lästig zu werden, zumal er seit einiger Zeit die größte Mühe hatte, die zehn Francs, die er für Droschke und Getränke brauchte, aufzutreiben.
Er lebte jetzt in größter Armut, er hatte jetzt noch weniger Geld als damals, wo er bei der Nordbahn angestellt war, denn in den ersten Monaten seiner Journalistenzeit hatte er, ohne zu rechnen, aus dem Vollen gelebt, als er noch glaubte, bald große Summen verdienen zu können, und nun waren, eine nach der anderen, alle Hilfsquellen erschöpft und alle Mittel, sich von neuem Geld zu verschaffen, versagten.
Das sehr einfache Verfahren, sich Geld an der Kasse zu leihen, hatte er zu oft angewandt; er hatte sein Gehalt schon für vier Monate im voraus bezogen und noch einen Vorschuß von sechshundert Francs auf sein Zeilenhonorar. Außerdem schuldete er Forestier hundert Francs und Jaques Rival, der sehr freigebig war, dreihundert; besonders quälten ihn noch eine Menge kleiner Schulden, die er nicht eingestehen konnte, in Höhe von fünf bis zwanzig Francs.
Er fragte Saint-Potin um Rat, wie er sich nochmals hundert Francs verschaffen könnte, aber er wußte auch keinen Ausweg mehr, obwohl er ein erfinderischer Kopf war; und Duroy war erbittert über seine Lage, die jetzt viel empfindlicher war, weil er mehr Bedürfnisse hatte als früher. In ihm kochte ein dumpfer Groll gegen die ganze Welt, und eine beständige Gereiztheit brach bei jeder Gelegenheit und bei den geringsten Anlässen hervor.
Manchmal fragte er sich, wie er es fertig gebracht hatte, im Durchschnitt tausend Francs monatlich zu verbrauchen, ohne sich irgendwelche Exzesse oder kostspielige Launen zu leisten. Wenn er aber nachrechnete, wurde es ihm klar, daß ein Frühstück von acht Francs und ein Diner von zwölf Francs zusammen einen Louisdor ausmachten. Dazu kamen noch etwa zehn Francs Taschengeld, das man ausgibt, man weiß nicht wo und wofür, so hatte er eine Gesamtsumme von dreißig Francs. Dreißig Francs pro Tag waren im Monat neunhundert Francs, wobei noch alle die Ausgaben für Kleidung, Schuhwerk, Wäsche usw. gar nicht einmal mitgerechnet waren.
Eines Tages, am 14. Dezember, hatte er keinen Sou mehr in der Tasche und sah auch keine Möglichkeit, sich Geld zu verschaffen. Er tat, was er schon öfter getan hatte, er sparte sich das Frühstück und arbeitete den Nachmittag in der Redaktion. Er war wütend und hatte für nichts mehr Sinn.
Um vier Uhr bekam er einen blauen Brief von seiner Geliebten, die fragte: »Wollen wir zusammen speisen und nachher eine kleine Bummelfahrt machen?«
Er antwortete sofort: »Diner unmöglich.« Dann aber überlegte er, daß es töricht sei, sich der angenehmen Stunde zu berauben, die seine Geliebte ihm bieten könnte, und fügte hinzu: »Aber ich erwarte dich um neun Uhr in unserer Wohnung,«
Um die Kosten des Telegramms zu sparen, Ließ er den Brief durch einen Redaktionsboten besorgen und grübelte dann darüber nach, auf welche Weise er sich das Geld für eine Mahlzeit verschaffen könnte.
Um sieben Uhr war ihm noch nichts eingefallen und dabei verspürte er einen furchtbaren Hunger. Da griff er zu einem verzweifelten Mittel. Er ließ alle seine Kollegen einen nach dem andern fortgehen und dann klingelte er energisch. Der Diener des Chefs, der zur Bewachung der Räume zurückgeblieben war, kam herein.
Duroy stand und wühlte nervös in seinen Taschen und sagte mit heftiger Stimme:
»Hören Sie, Foucart, ich habe mein Portemonnaie zu Hause liegen lassen und ich muß zum Diner ins Luxembourg. Leihen Sie mir, bitte, fünfzig Sous, damit ich meine Droschke bezahlen kann.«
Der Mann holte drei Francs aus der Westentasche und fragte:
»Herr Duroy wollen nicht mehr?«
»Nein, nein, das genügt. Besten Dank.«
Duroy ergriff das Silberstück und eilte die Treppe hinab.
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