»Bitte, bezahlen Sie für mich, ich kann nicht mehr lesen, ich bin zu berauscht.«
Und gleichzeitig warf sie ihm die Börse zu. — Die Rechnung betrug hundertunddreißig Francs. Duroy prüfte sie, gab zwei Banknoten, ließ sich herausgeben und fragte halblaut: »Wieviel soll ich dem Kellner geben?«
»Was Sie wollen, ich weiß nicht.«
Er legte fünf Francs auf den Teller, gab der jungen Frau ihre Börse zurück und sagte:
»Darf ich Sie nach Hause begleiten?«
»Aber unbedingt. Ich bin überhaupt nicht mehr imstande, meine Wohnung zu finden.«
Sie drückten Herrn und Frau Forestier die Hand, und gleich darauf saß Duroy allein mit Madame de Marelle in einer rollenden Droschke.
Sie waren jetzt dicht aneinander gedrängt in diesem schwarzen Kasten eingeschlossen, der dann und wann auf einen Augenblick durch das Licht der Straßenlaterne beleuchtet wurde. Er fühlte durch seinen Ärmel die Wärme ihrer Schulter, und er wußte ihr nichts zu sagen, absolut nichts, so sehr beherrschte ihn der heiße Wunsch, sie in seine Arme zu schließen. »Was würde sie denn tun, wenn ich es wagte?« Und die Erinnerung an alle anzüglichen Bemerkungen während des Essens erregten ihn, während ihn die Angst vor einem Skandal zurückhielt. Sie sagte kein Wort und saßt regungslos in ihrer Ecke. Er hätte gedacht, sie schliefe, hätte er nicht jedesmal, wenn ein Lichtschein in das Kupee fiel, ihre Augen blitzen sehen. Was dachte sie wohl? Er fühlte zwar, daß er nicht sprechen dürfe, daß ein Wort, ein einziges Wort, das das Schweigen unterbräche, all seine Aussichten vernichten könnte, doch ihm fehlte der Mut, frech und brutal zuzugreifen.
Plötzlich fühlte er, wie ihr Fuß sich rührte. Es war eine harte, nervöse, ungeduldige Bewegung, vielleicht eine Aufforderung. Bei dieser fast unmerklichen Bewegung überlief ihn ein Schaudern von Kopf bis zu Fuß. Mit einem Ruck wandte er sich um und warf sich über sie. Er suchte ihren Mund mit seinen Lippen und mit den Händen ihr nacktes Fleisch.
Sie stieß einen Schrei aus, einen leichten Schrei; sie wollte sich aufrichten, ihn zurückstoßen, dann aber gab sie nach, als fehlte ihr die Kraft, sich zu wehren. Aber die Droschke hielt schon nach kurzer Zeit vor dem Hause, wo sie wohnte, und Duroy fand vor Überraschung kein leidenschaftliches Wort, um ihr seine dankbare Liebe zu gestehen.
Indessen erhob sie sich nicht und rührte sich nicht; sie schien wie betäubt von dem, was geschehen war. Da fürchtete er, der Kutscher könnte Verdacht schöpfen und stieg zuerst aus, um der jungen Dame die Hand zu reichen. Stolpernd, und ohne ein Wort zu sagen, stieg sie endlich aus der Droschke. Er läutete, und als die Tür aufging, fragte er zitternd: »Wann darf ich Sie wiedersehen?«
Sie flüsterte so leise, daß er es kaum hörte: »Kommen Sie morgen zu mir frühstücken.« Und sie verschwand im Schatten des Hausflurs, nachdem sie die schwere, laut dröhnende Tür zugeworfen hatte.
Er gab dem Kutscher fünf Francs und ging dann rasch und siegesgewiß, voll übermütiger Freude, seinen Weg zurück. Endlich hatte er eine Frau gefunden, eine Frau aus der Gesellschaft, aus der besten Pariser Gesellschaft. Wie leicht war es gewesen und wie unverhofft. Er hatte sich eingebildet, daß, um eines von diesen ersehnten Geschöpfen zu verführen und zu erobern, endlose Mühe, langes Warten und eine geschickte Belagerung durch Aufmerksamkeiten, Liebesworte, Seufzer und Geschenke nötig seien. Und siehe da, die erste, die ihm begegnete, ergab sich ihm mit einem Schlag, beim ersten Angriff, so schnell, daß er noch ganz verblüfft war.
»Sie war berauscht,« dachte er, »morgen wird die Tonart anders sein. Ich fürchte, es gibt Tränen.« Diese Aussicht beunruhigte ihn, dann aber sagte er sich: »Um so schlimmer; jetzt habe ich sie und lasse sie nicht wieder los.«
Und in einer wirren Vision, in der sich alle seine Zukunftshoffnungen auf Ruhm und Ehre, auf Reichtum und Liebe widerspiegelten, erblickte er plötzlich, ähnlich einem Schwarm von Figurantinnen bei den Theaterapotheosen, eine lange Reihe eleganter, reicher, vornehmer Frauen, die auf den goldenen Wolken seiner Träume eine nach der anderen lächelnd an ihm vorüberzogen.
Und auch sein Schlaf war reich von solchen Träumen.
Am nächsten Tage war er etwas aufgeregt, als er die Treppe zur Wohnung der Madame de Marelle hinaufstieg. Wie würde sie ihn empfangen? Würde sie überhaupt gestatten, ihn hereinzulassen? Womöglich war sie für ihn überhaupt nicht zu Hause? Wenn sie schwatzte… Nein, sie konnte gar nichts weitererzählen, ohne die ganze Wahrheit durchblicken zu lassen. Er war also völlig Herr der Situation.
Das kleine Dienstmädchen öffnete die Tür und hatte einen Gesichtsausdruck wie immer. Ihr war nichts anzusehen, denn fast hatte er erwartet, daß das Dienstmädchen auch ein verstörtes Aussehen zur Schau tragen würde.
»Geht es der gnädigen Frau gut?« fragte er.
»Jawohl, mein Herr,« antwortete sie, »wie immer.«
Sie ließ ihn in den Salon hinein. Er ging direkt auf den Kamin zu, um den Zustand seiner Frisur und seines Anzugs zu prüfen. Er zog sich die Krawatte vor dem Spiegel zurecht und sah in diesem die junge Frau, die an der Schwelle ihres Zimmers stand und ihn anschaute.
Er tat so, als bemerke er sie nicht, und so beobachteten sie sich erst einander prüfend eine Zeitlang durch den Spiegel, ehe sie sich gegenübertraten. Nun drehte er sich um. Sie rührte sich nicht und schien zu warten.
Er eilte auf sie zu und stammelte:
»Wie ich Sie liebe! Wie ich Sie liebe!«
Sie öffnete die Arme und sie küßten sich lange.
Er dachte: »Das war leichter, als ich geglaubt hatte, die Sache klappt ausgezeichnet!«
Und als ihre Lippen sich getrennt hatten, lächelte er, ohne ein Wort zu sagen, und versuchte, in seine Blicke den Ausdruck einer unendlichen Liebe hineinzulegen. Sie lächelte gleichfalls mit jenem Lächeln, das die Frauen haben, wenn sie ihr Verlangen, ihre Zustimmung, ihren Willen zur Hingabe ausdrücken wollen. Sie sagte leise:
»Wir sind allein. Ich habe Laurine zu einer Freundin zum Frühstück geschickt.«
Er küßte ihre Handgelenke und seufzte:
»Danke. Ich liebe Sie über alles!«
Sie nahm ihn am Arm, als ob er ihr Gatte wäre, und sie gingen zum Sofa, wo sie sich nebeneinander hinsetzten.
Er versuchte eine leichte und angenehme Unterhaltung anzufangen. Da er jedoch keine Ausdrücke fand, stammelte er:
»Also … Sie sind mir nicht böse?«
Sie legte ihm ihre Hand auf den Mund:
»Sei doch still.«
Und so saßen sie schweigend, die Blicke ineinander versenkt, mit verschlungenen Händen, liebebedürftig und glühend vor Verlangen.
»Wie heiß habe ich Sie begehrt!« sagte er.
»Sei doch still!« wiederholte sie.
Man hörte das Mädchen im Eßzimmer hinter der Wand mit dem Geschirr klappern.
Er stand auf. »Ich kann nicht so dicht neben Ihnen bleiben, sonst verliere ich den Kopf.«
Die Tür ging auf.
»Es ist angerichtet, gnädige Frau!«
Duroy bot der jungen Dame mit Würde den Arm. Sie saßen sich bei Tisch gegenüber; sie sahen sich an und lächelten einander immerfort zu, ganz miteinander beschäftigt und ganz umfangen von dem süßen Zauber aufblühender Leidenschaft. Sie aßen, ohne zu merken, was. Er fühlte einen Fuß, einen kleinen Fuß, der unter dem Tisch sich regte. Er nahm ihn zwischen die seinen, hielt ihn fest und drückte ihn, so stark er konnte. Das Mädchen kam und ging, brachte die Speisen und trug sie wieder ab, ohne daß sie irgend etwas zu merken schien.
Als die Mahlzeit beendet war, kehrten sie in den Salon zurück und setzten sich wieder auf das Sofa, Seite an Seite. Er wollte zärtlich sein und sie umarmen; sie wies ihn sanft zurück.
»Nehmen Sie sich in acht, man könnte hereinkommen.«
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