Er aß in einer Garküche, wo er in den schlimmsten Tagen seiner Armut oft einkehrte.
Um neun Uhr saß er im Salon am Kamin und erwartete seine Geliebte.
Sie erschien sehr guter Laune, sehr lustig, angeregt von der kalten Luft auf der Straße.
»Wenn es dir recht ist,« sagte sie, »machen wir einen Spaziergang und sind dann um elf Uhr wieder zurück. Das Wetter ist herrlich!«
Er antwortete in einem mürrischen Ton:
»Warum sollen wir ausgehen? Hier ist es auch sehr angenehm.«
Sie erwiderte, ohne ihren. Hut abzunehmen: »Wenn du wüßtest, welch wundervoller Mondschein draußen ist! Es ist eine wahre Wonne, heute spazieren zu gehen.«
»Schon möglich, aber mir liegt nichts daran.«
Er sagte das in wütendem Ton. Sie fühlte sich verletzt und fragte:
»Was ist mit dir? Was sind das für Manieren? Ich wünsche auszugehen und sehe nicht ein, wieso das dich ärgern kann?«
Ganz aufgebracht, stand er auf:
»Ich ärgere mich gar nicht, es ist mir bloß langweilig. Das ist alles!«
Sie gehörte zu den Leuten, die jeder Widerstand reizt und jede Unhöflichkeit aus der Fassung bringt. So erwiderte sie mit kalter, zorniger Verachtung:
»Ich bin es nicht gewohnt, daß man mit mir so spricht. Es ist daher am besten, ich gehe allein. Adieu.«
Er begriff, daß die Sache ernst wurde und stürzte hinter ihr her, ergriff ihre Hände und küßte sie. Er stammelte:
»Verzeih mir, Liebste, verzeih mir. Ich bin heute abend ganz nervös und überreizt. Ich hatte Ärger und Unannehmlichkeiten im Beruf, weißt du?«
Sie erwiderte etwas milder, aber immer noch nicht beruhigt: »Das geht mich nichts an. Ich will nicht diejenige sein, die unter deinen Launen zu leiden hat.«
Er schloß sie in die Arme und zog sie zum Sofa.
»So höre doch, Liebling, ich wollte dich doch nicht kränken; ich überlegte nicht, was ich sagte!«
Er hatte sie gezwungen, sich hinzusetzen und kniete vor ihr nieder:
»Verzeih mir, bitte, sage, daß du mir verzeihst!«
Sie murmelte mit ziemlich kühler Stimme:
»Meinetwegen. Aber komm mir nicht wieder mit so etwas.«
Dann stand sie auf und sagte:
»So, nun wollen wir ausgehen.«
Er kniete noch immer vor ihr und hielt ihre Hüften mit seinen Armen umschlungen. Er stotterte: »Ich bitte dich, bleiben wir hier … bitte. Ich flehe dich an, tu es mir zuliebe … Ich möchte dich heute abend so gern für mich ganz allein haben, hier am Kamin. Sag’ ja, ich bitte dich, sag’ ja!«
Sie antwortete klar und schroff:
»Nein, ich will ausgehen, ich werde mich deiner Laune nicht fügen.«
Er bestand darauf:
»Ich flehe dich an, ich habe einen Grund, einen sehr ernsten Grund.«
Sie erklärte von neuem: »Nein, wenn du nicht mitkommst, gehe ich allein fort. Adieu.«
Mit einem Ruck hatte sie sich losgemacht und ging zur Tür. Er eilte ihr nach und umklammerte sie mit den Armen.
»Höre, Clo, meine Clo, höre doch, höre mich an und gib einmal nach.«
Sie schüttelte verneinend den Kopf, ohne zu antworten; sie wich seinen Küssen aus und versuchte sich zu befreien.
Er stotterte: »Clo, meine liebe, kleine Clo, ich habe einen Grund.«
Sie blieb stehen und blickte ihm ins Gesicht:
»Du schwindelst … Welchen Grund?«
Er wurde rot und wußte nicht, was er sagen sollte. Entrüstet fuhr sie fort: »Da siehst du, es ist Schwindel … Du widerwärtiger Kerl.«
Mit einer wütenden Gebärde und Tränen in den Augen riß sie sich von ihm weg.
Er faßte sie noch einmal an den Schultern. Er war fassungslos und bereit, alles zu gestehen, nur um einen Bruch zu vermeiden. Mit verzweifelter Stimme erklärte er: »Der Grund ist … ich besitze keinen einzigen Sou.«
Sie blieb plötzlich stehen und sah ihm fest in die Augen, als wollte sie die Wahrheit herauslesen: »Du sagtest?«
Er war bis in die Haarwurzeln rot geworden.
»Ich sage, ich habe keinen Sou. Verstehst du mich? Keine zwanzig Sous, keine zehn, nicht einmal soviel, um für dich im Café einen Likör zu bezahlen. Du zwingst mich zu diesem beschämenden Geständnis. Ich konnte doch nicht mit dir ausgehen, und wenn unsere Getränke vor uns ständen, dir einfach erklären: ich könne sie nicht bezahlen.«
Sie sah ihm immer noch ins Gesicht:
»Also wirklich … das ist alles wahr?«
Im Nu drehte er alle seine Taschen um, Hosentaschen, Rock-und Westentasche und rief: »Nun … bist du jetzt zufrieden?«
Plötzlich öffnete sie leidenschaftlich ihre beiden Arme, sprang ihm um den Hals und stammelte:
»Oh, du mein armer Liebling… armer Liebling. Wenn ich das nur gewußt hätte! Aber wie ist denn das gekommen?«
Sie zog ihn zum Sofa und setzte sich auf seine Knie; sie legte ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn immerfort; sie küßte ihn auf seinen Schnurrbart, auf seinen Mund, auf seine Augen, und zwang ihn, zu erzählen, wie er in die üble Lage geraten war. Er erfand eine rührende Geschichte. Er habe seinem Vater, der in Not geraten war, helfen müssen, und nicht nur alle seine Ersparnisse hingegeben, sondern auch drückende Schulden auf sich geladen.
»Ich werde mindestens sechs Monate hungern müssen,« fügte er hinzu, »denn alle meine Hilfsquellen sind erschöpft. Es hilft eben nichts; es gibt halt schwere Stunden im Leben. Im übrigen lohnt es sich nicht, sich wegen lumpigen Geldes Sorgen zu machen.«
Sie flüsterte ihm ins Ohr:
»Ich will dir welches leihen, willst du?«
Er antwortete würdevoll:
»Das ist sehr lieb von dir, mein Herz, aber ich bitte dich, sprechen wir nicht mehr davon, das verletzt mich.«
Sie schwieg, dann drückte sie ihn fest an sich und flüsterte:
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich dich liebe!«
So einen zarten und liebevollen Abend hatten sie noch nie verbracht.
Als sie fortgehen wollte, sagte sie lächelnd:
»Wenn man in deiner Lage ist, muß es ganz hübsch sein, plötzlich in der Tasche ein Geldstück zu finden, das ins Futter gerutscht ist.«
Er erwiderte mit Überzeugung: »Ach ja, das wäre sehr angenehm.«
Sie wollte zu Fuß nach Hause gehen unter dem Vorwand, der Mondschein wäre so herrlich und sie begeisterte sich bei diesem Anblick.
Es war eine kalte, schöne Winternacht. Menschen und Pferde schritten rasch und munter in der hellen, frostigen Luft. Die Hacken schallten auf den Bürgersteigen.
Beim Abschied fragte sie ihn:
»Sehen wir uns übermorgen wieder?«
»Gewiß.«
»Um dieselbe Zeit?«
»Gut, um dieselbe Zeit.«
»Auf Wiedersehen, mein Liebling.«
Und sie küßten sich zärtlich.
Er kehrte eiligst nach Hause und zerbrach sich unterwegs den Kopf, was er nun beginnen sollte, um sich aus der Klemme zu ziehen. Doch als er seine Zimmertür öffnete und in seiner Westentasche nach einem Streichholz suchte, fühlte er zu seinem Staunen darin ein Goldstück. Er zündete das Licht an und besah sich näher die Münze. Es war ein Zwanzigfrancsstück. Zuerst dachte er, er sei verrückt geworden. Er drehte es hin und her und überlegte, durch welches Wunder dieses Geld in seine Tasche gelangt war. Es konnte doch nicht vom Himmel herabgefallen sein!
Plötzlich fiel es ihm ein und eine heftige Entrüstung ergriff ihn. Seine Geliebte hatte ja in der Tat von Geld gesprochen, das ins Futter gerutscht sei und das man in Stunden der Not wiederfände. Von ihr also stammte das Almosen. Welche Schande!
»Na, übermorgen soll sie sehen!« schwor er sich. »Sie wird eine hübsche Viertelstunde erleben.«
Er legte sich zu Bett, das Herz voll Scham und Zorn.
Er wachte spät auf. Er hatte Hunger und versuchte, noch einmal einzuschlafen, um erst gegen zwei Uhr aufzustehen. Dann sagte er sich: »Damit komme ich nicht weiter, ich muß doch schließlich sehen, wie ich Geld kriege.« Dann ging er aus, in der Hoffnung-, daß auf der Straße ihm irgendein guter Einfalt kommen würde.
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