"Sie sind über das Gletschereis und über die Schründe gegangen, ohne es zu wissen", rief der Schuster seinem Schwiegervater zu.
"Da sind sie ja - da sind sie ja - Gott sei Dank", antwortete der Färber, "ich weiß es schon, daß sie oben waren, als dein Bote in der Nacht zu uns kam und wir mit Lichtern den ganzen Wald durchsucht und nichts gefunden hatten - und als dann das Morgengrau anbrach, bemerkte ich an dem Wege, der von der roten Unglücksäule links gegen den Schneeberg hinanführt, daß dort, wo man eben von der Säule weggeht, hin und wieder mehrere Reiserchen und Rütchen geknickt sind, wie Kinder gerne tun, wo sie eines Weges gehen - da wußte ich es - die Richtung ließ sie nicht mehr aus, weil sie in der Höhlung gingen, weil sie zwischen den Felsen gingen, und weil sie dann auf dem Grat gingen, der rechts und links so steil ist, daß sie nicht hinabkommen konnten. Sie mußten hinauf. Ich schickte nach dieser Beobachtung gleich nach Gschaid, aber der Holzknecht Michael, der hinüberging, sagte bei der Rückkunft, da er uns fast am Eise oben traf, daß ihr sie schon habet, weshalb wir wieder heruntergingen."
"Ja", sagte Michael, "ich habe es gesagt, weil die rote Fahne schon auf dem Krebssteine steckt und die Gschaider dieses als Zeichen erkannten, das verabredet worden war. Ich sagte euch, daß auf diesem Wege da alle herabkommen müssen, weil man über die Wand nicht gehen kann."
"Und kniee nieder und danke Gott auf den Knien, mein Schwiegersohn", fuhr der Färber fort, "daß kein Wind gegangen ist. Hundert Jahre werden wieder vergehen, daß ein so wunderbarer Schneefall niederfällt, und daß er gerade niederfällt, wie nasse Schnüre von einer Stange hängen. Wäre ein Wind gegangen, so wären die Kinder verloren gewesen."
"Ja, danken wir Gott, danken wir Gott", sagte der Schuster.
Der Färber, der seit der Ehe seiner Tochter nie in Gschaid gewesen war, beschloß, die Leute nach Gschaid zu begleiten.
Da man schon gegen die rote Unglücksäule zukam, wo der Holzweg begann, wartete ein Schlitten, den der Schuster auf alle Fälle dahin bestellt hatte. Man tat die Mutter und die Kinder hinein, versah sie hinreichend mit Decken und Pelzen, die im Schlitten waren, und ließ sie nach Gschaid vorausfahren.
Die anderen folgten und kamen am Nachmittage in Gschaid an.
Die, welche noch auf dem Berge gewesen waren und erst durch den Rauch das Rückzugszeichen erfahren hatten, fanden sich auch nach und nach ein. Der letzte, welcher erst am Abende kam, war der Sohn des Hirten Philipp, der die rote Fahne auf den Krebsstein getragen und sie dort aufgepflanzt hatte.
In Gschaid wartete die Großmutter, welche herübergefahren war.
"Nie, nie", rief sie aus, "dürfen die Kinder in ihrem ganzen Leben mehr im Winter über den Hals gehen."
Die Kinder waren von dem Getriebe betäubt. Sie hatten noch etwas zu essen bekommen, und man hatte sie in das Bett gebracht. Spät gegen Abend, da sie sich ein wenig erholt hatten, da einige Nachbarn und Freunde sich in der Stube eingefunden hatten und dort von dem Ereignisse redeten, die Mutter aber in der Kammer an dem Bettchen Sannas saß und sie streichelte, sagte das Mädchen: "Mutter, ich habe heute nachts, als wir auf dem Berge saßen, den heiligen Christ gesehen."
"O du mein geduldiges, du mein liebes, du mein herziges Kind", antwortete die Mutter, "er hat dir auch Gaben gesendet, die du bald bekommen wirst."
Die Schachteln waren ausgepackt worden, die Lichter waren angezündet, die Tür in die Stube wurde geöffnet, und die Kinder sahen von dem Bette auf den verspäteten, hell leuchtenden, freundlichen Christbaum hinaus. Trotz der Erschöpfung mußte man sie noch ein wenig ankleiden, daß sie hinausgingen, die Gaben empfingen, bewunderten und endlich mit ihnen entschliefen.
In dem Wirtshause in Gschaid war es an diesem Abende lebhafter als je. Alle, die nicht in der Kirche gewesen waren, waren jetzt dort, und die andern auch. jeder erzählte, was er gesehen und gehört, was er getan, was er geraten und was für Begegnisse und Gefahren er erlebt hat. Besonders aber wurde hervorgehoben, wie man alles hätte anders und besser machen können.
Das Ereignis hat einen Abschnitt in die Geschichte von Gschaid gebracht, es hat auf lange den Stoff zu Gesprächen gegeben, und man wird noch nach Jahren davon reden, wenn man den Berg an heitern Tagen besonders deutlich sieht, oder wenn man den Fremden von seinen Merkwürdigkeiten erzählt.
Die Kinder waren von dem Tage an erst recht das Eigentum des Dorfes geworden, sie wurden von nun an nicht mehr als Auswärtige, sondern als Eingeborne betrachtet, die man sich von dem Berge herabgeholt hatte. Auch ihre Mutter Sanna war nun eine Eingeborne von Gschaid.
Die Kinder aber werden den Berg nicht vergessen und werden ihn jetzt noch ernster betrachten, wenn sie in dem Garten sind, wenn wie in der Vergangenheit die Sonne sehr schön scheint, der Lindenbaum duftet, die Bienen summen und er so schön und so blau wie das sanfte Firmament auf sie herniederschaut.
(Charles Dickens)
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel. Marleys Geist
Zweites Kapitel. Der erste der drei Geister
Drittes Kapitel. Der zweite der drei Geister
Viertes Kapitel. Der letzte der drei Geister
Fünftes Kapitel Das Ende des Liedes
Erstes Kapitel.
Marleys Geist
Inhaltsverzeichnis
Marley war tot; damit wollen wir beginnen. Darüber gibt es nicht den mindesten Zweifel. Sein Totenschein war unterschrieben von dem Geistlichen, dem Notar, dem Leichenwärter und dem Hauptleidtragenden. Scrooge unterzeichnete ihn. Und Scrooges Name hat unbedingte Geltung auf der Börse für jede Angelegenheit, an der er beteiligt war.
Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel.
Paßt auf! Ich möchte damit nicht behaupten, daß für mein Wissen ein Türnagel etwas besonderes Totes an sich hätte. Was mich betrifft, ich möchte einen Sargnagel als das toteste Stück Eisen im Handel betrachten. Aber die Weisheit unserer Vorfahren ruht in dem Gleichnis; und meine unberufenen Hände sollen es nicht zerstören, sonst ist es um das Vaterland geschehen. Man wird mir deshalb gestatten, es nachdrücklich zu wiederholen, daß Marley so tot war wie ein Türnagel.
Wußte Scrooge, daß er tot war? Selbstredend wußte er es. Wie wäre es anders möglich gewesen? Scrooge und er waren ja – wer weiß wie lange – Kompagnons gewesen. Scrooge war sein einziger Testamentsvollstrecker, sein einziger Sachwalter, sein einziger Erbe und sein einziger trauernder Hinterbliebener. Und nicht einmal Scrooge war von dem betrüblichen Ereignis genug mitgenommen, daß er sich nicht auch an dem Begräbnistag als ein hervorragender Geschäftsmann erwiesen und diesen durch einen erfolgreichen Handel festlich begangen hätte.
Der Hinweis auf Marleys Begräbnistag führt mich in meiner Erzählung wieder zu dem Punkt zurück, von dem ich ausgegangen bin. Es ist ganz sicher, daß Marley tot war. Das muß klar erkannt sein; sonst ist an der Geschichte nichts Wunderbares, die ich erzählen will. Falls wir nämlich nicht ganz und gar überzeugt wären, daß Hamlets Vater tot ist, ehe das Stück anfängt, würde sein nächtlicher Spaziergang im heftigen Ostwind auf der Terrasse seines Schlosses gar nichts Merkwürdiges an sich haben. Nichts Merkwürdigeres, als wenn irgendein anderer Herr in besten Jahren sich nach Sonnenuntergang noch rasch zu einem Spaziergang in einer windigen Gegend – etwa auf dem St. Pauls-Friedhof – entscheidet, nur um seinem trägen Sohn aus seinem Stumpfsinn aufzujagen. Scrooge ließ Marleys Namen nicht übermalen. Noch nach Jahren stand über der Tür des Warenmagazins »Scrooge und Marley«. Die Firma war unter dem Namen Scrooge und Marley bekannt. Zuweilen nannten Leute, die Scrooge nicht kannten, ihn Scrooge und zuweilen Marley; er hörte auf beide Namen, denn es war ihm ganz gleich.
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