Die Messe ist zu Ende. Heiterer Miene tritt Henri Beyle, blitzend in Uniform und Übermut, aus der Kirche und schlendert den Graben entlang; bezaubernd findet er diese schöne, saubere Stadt Wien und ihre Menschen, die gute Musik machen, ohne darum schon so hart und grüblerisch zu verschroten wie droben im Nordland die andern Deutschen. Eigentlich sollte er jetzt in sein Amt gehen und für die Verproviantierung der Grande armée sorgen, aber das scheint ihm von minderer Wichtigkeit. Vetter Daru arbeitet ja wie ein Pferd, und den Sieg wird Napoleon schon erfechten: Gott sei Dank, daß er solche Käuze schuf, denen die Arbeit Spaß macht: man kann auf ihre Kosten gut leben. So zieht Cousin Beyle, von Jugend auf virtuos geübt in der Teufelskunst der Undankbarkeit, das bequemere Amt vor, Madame Daru in Wien über die Arbeitswütigkeit ihres Gatten zu trösten. Kann man sich besser gegen einen Wohltäter revanchieren, als daß man wohltätig ist gegen seine Frau mit Gefühl und Zärtlichkeit? Sie reiten zusammen hinaus in den Prater, allerhand Intimitäten spinnen sich an im zerschossenen Lusthaus. Sie besehen die Galerien, die Schatzkammern und die schönen Landschlösser des Adels, bis nach Ungarn hinaus sausen sie in gutgefederten Kaleschen, indes die Soldaten bei Wagram sich die Schädel einschlagen und der wackere Gatte Daru Tinte schwitzt. Der Nachmittag gehört der Liebe, der Abend dem Kärntnertor-Theater, am liebsten Mozart und immerdar Musik: allmählich begreift der sonderbare Mensch unter dem Intendantenrock, daß für ihn in der Kunst der Sinn und die Süße alles Lebens liegt.
1810 bis 1812, Paris. Glanzjahre des Kaiserreichs.
Es wird immer herrlicher. Man hat Geld und kein Amt, man ist – weiß Gott, ohne Verdienst! – dank zarter Frauenhände Mitglied des Staatsrats und Verwalter des Kronmobiliars geworden. Aber Napoleon bedarf glücklicherweise nicht ernstlich seiner Staatsratgeber, sie haben Zeit und können viel spazierengehen – nein: spazierenfahren! Denn Henri Beyle, die Börse gut gepolstert von diesen plötzlichen Funktionärsgeldern, lenkt jetzt sein eigenes, lackfrisch funkelndes Kabriolett, er speist im Café de Foy, beschäftigt den ersten Schneider, hat ein Verhältnis mit seiner Cousine und hält sich (Ideal seiner Jugend!) außerdem eine Tänzerin aus, namens Bereyter. Wie sonderbar, daß man mit dreißig Jahren mehr Glück hat bei den Frauen als mit zwanzig, wie unerklärlich, daß sie leidenschaftlicher werden, je kühler man tut; jetzt beginnt auch Paris, das dem armen Studiosus so häßlich erschien, ihm langsam zu gefallen; wahrhaftig, das Leben wird schön. Und das Schönste: man hat Geld, und man hat Zeit, so viel Zeit sogar, daß man zu seinem Vergnügen, nur eigentlich, um sich an das geliebte Italien zu erinnern, ein Buch aus jener Welt schreibt, eine »Histoire de la peinture«. Ach, kunsthistorische Werke schreiben, das ist ja ein so angenehmes, unverbindliches Vergnügen, besonders, wenn man’s, wie Henri Beyle, sich so bequem macht, sie zu drei Vierteln einfach aus andern Büchern abzuschreiben und bloß den Rest mit Anekdoten und Drolerien locker aufzufüllen: doch welches Glück schon, bloß als Genießer dem Geistigen nahe zu sein! Vielleicht, denkt Henri Beyle, könnte man einmal, wenn man alt wird, Bücher schreiben, um sich die verlorene Zeit und die Frauen in Erinnerung einzufangen. Aber wozu schon jetzt: das Leben ist noch viel zu reich, zu füllig und zu schön, um es am Schreibtisch zu versäumen!
1812 bis 1813. Kleine Störung: Napoleon führt wieder einmal Krieg, diesmal ein paar tausend Meilen weit. Aber Rußland, das abenteuerlich ferne Land, lockt den ewig neugierigen Touristen: welch einzige Gelegenheit, sich einmal auch den Kreml und die Moskowiter anzusehen und auf Staatskosten nach Osten zu rutschen, selbstverständlich in der Nachhut, behaglich und ohne Gefahr, so wie seinerzeit in Italien, Deutschland und Österreich. Tatsächlich, er bekommt eine große Mappe von Marie Luise mit, gefüllt mit Briefen an den großen Gemahl, er wird feierlich beauftragt, in Eilkarossen und bepelzten Schlitten Geheimpost bis Moskau zu bringen. Da der Krieg in der Nähe gesehen – Beyle weiß es aus Erfahrung – ihm immer sterbenslangweilig wird, nimmt er sich privatim einiges zum persönlichen Amüsement mit, eine Kopie der zwölf Manuskriptbände der »Histoire de la peinture« in grünem Maroquinband und sein seit Jahren begonnenes Lustspiel; denn wo arbeitet man für sich besser als im Hauptquartier? Schließlich wird ja auch Talma nach Moskau kommen und die Große Oper, man wird sich nicht allzusehr langweilen und dann: eine neue Variante, die polnischen, die russischen Frauen…
Beyle hält unterwegs nur Station, wo es Schauspiel gibt: auch im Krieg, auch auf der Reise kann er Musik nicht entbehren, allerorts muß die Kunst ihm Gefährtin sein. Aber erstaunlicheres Schauspiel noch erwartet ihn in Rußland: Moskau eine brennende Metropole der Welt, ein Panorama, wie seit Nero kein Dichter es großartiger erschaut hat. Nur fertigt Henri Beyle keine Oden bei diesem pathetischen Anlaß, und seine Briefe verbreiten sich wenig über dieses unangenehme Ereignis. Längst ist diesem subtilen Genießer das militärische Gekatzbalge der Welt nicht mehr so wichtig wie zehn Takte Musik oder ein kluges Buch: das feine Beben des Herzens erschüttert ihn mehr als die Kanonade von Borodino, und er hat nur noch wenig Sinn für andere Historie als die seines eigenen Lebens. So fischt er sich aus dem Riesenbrand einen schön gebundenen Voltaire heraus und gedenkt ihn mitzunehmen: souvenir de Moscou. Aber diesmal tritt selbst den Etappenschwärmern der Krieg mit seinen Frostbeinen kräftig auf die Zehen. An der Beresina hat der Auditor Beyle noch Zeit (als der einzige Offizier in der Armee, der an derlei Dinge denkt), sich tadellos zu rasieren, dann aber eiligst über die einkrachende Brücke, sonst geht es an den Kragen. Das Tagebuch, die »Histoire de la peinture«, der schöne Voltaire, das Pferd und der Pelz und der Mantelsack bleiben den Kosaken. Nur mit zerrissenen Kleidern am Leib, schmutzig, gehetzt, die Haut von Kälte zerrissen, rettet er sich nach Preußen. Und sein erster Atemzug ist wieder die Oper: wie andere ins Bad, stürzt er sich gleich in Musik, um sich zu erfrischen. So wird für Henri Beyle der russische Feldzug, die Vernichtung der Großen Armee, nicht viel mehr als ein Intermezzo zwischen zwei Abenden, der »Clemenzia di Tito« in Königsberg bei der Rückkehr und dem »Matrimonio secreto« in Dresden, bei dem Auszug ins Feld.
1814 bis 1821, Mailand. Wiederum Zivil, Henri Beyle hat genug, endgültig genug vom Krieg. Eine Schlacht sieht von der Nähe aus wie die andere, man sieht in jeder dasselbe, »nämlich nichts«. Er hat genug von allen Aufgaben und Ämtern, von Vaterländern und Schlächtereien, von Papieren und Offizieren. Mag Napoleon in seiner »Courromanie« seiner wütigen Kriegskrankheit, noch einmal Frankreich erobern: gut, er tue so, aber ohne den Sukkurs fortan des Herrn Auditor Beyle, der nichts anderes mehr will als keinem befehlen und keinem gehorchen, der nichts begehrt als das Natürlichste und doch Allerschwerste: endlich, endlich sein eigenes Leben zu führen.
Schon vor drei Jahren, zwischen zweien der üblichen Napoleonskriege, zweitausend Franken in der Tasche, war er, selig und froh wie ein Kind, zum Urlaub hinabgesaust nach Italien: schon hat jenes Heimweh nach seiner eigenen Jugend begonnen, das den alternden Beyle bis zur letzten Stunde nie mehr verläßt – und seine Jugend heißt Italien: Italien und Angela Pietragrua, die er timid und scheu als kleiner Unteroffizier geliebt und an die er nun mit einmal unbezwinglich denken muß, seit die Kutsche die alten Pässe niederrollt. Abends kommt er an in Mailand. Rasch den Staub von Gesicht und Hand, andere Kleider über und hin in die Heimat des Herzens, in die Scala, Musik zu hören. Und wirklich, nach seinem eigenen Wort: »Musik erweckt die Liebe.«
Читать дальше