»Fürst Kutusow, ich sende Ihnen einen meiner Generaladjutanten, um mit Ihnen über viele wichtige Gegenstände zu verhandeln. Ich bitte Eure Erlaucht, an alles das zu glauben, was er Ihnen sagen wird, besonders wenn er Ihnen die Gefühle der Hochachtung und besonderen Verehrung ausdrücken wird, die ich seit langer Zeit für Sie hege. Ich flehe zu Gott, Sie unter seinen heiligen Schutz zu nehmen. Moskau, 30. Oktober 1812.
Napoleon.«
»Ich würde verflucht werden, wenn ich zuerst die Hand zu irgendeinem Übereinkommen bieten würde. Das ist der Wille unseres Volkes«, erwiderte Kutusow und verwandte, wie zuvor, alle Aufmerksamkeit darauf, um das Heer vom Angriff zurückzuhalten. In dem Monat, während Moskau geplündert wurde, und das russische Heer ruhig bei Tarutino stand, ging eine Veränderung im Verhältnis der beiderseitigen Streitkräfte vor sich, sowohl in bezug auf den Geist als auf die Zahl, und die Übermacht neigte sich auf die Seite der Russen. Obgleich die Lage des französischen Heeres und die Zahlenverhältnisse desselben den Russen unbekannt waren, zeigte sich doch sehr bald die Notwendigkeit des Angriffs in zahlreichen Anzeichen. Diese Anzeichen waren die Absendung Lauristons, der Überfluß an Proviant in Tarutino; dann die von allen Seiten einlaufenden Nachrichten über die Untätigkeit der Franzosen und die Unordnungen in ihrem Heer, sowie die Ergänzung unserer Regimenter durch Rekruten, das schöne Wetter und die lange dauernde Ruhe der russischen Soldaten, die wie gewöhnlich bei den Truppen die Ungeduld nach Taten und die Neugierde darauf, was bei den Franzosen vorging, erweckte, welche man so lange aus dem Auge verloren hatte; ferner die Kühnheit, mit der jetzt die russischen Vorposten die bei Tarutino stehenden Franzosen umschwärmten, und die Nachrichten von den letzten Siegen der Bauern und kleiner Abteilungen über die Franzosen, der Neid, der dadurch erregt wurde, und der Rachedurst, der in der Seele jedes Mannes lag, solange die Franzosen in Moskau standen, und endlich das unklare Bewußtsein dessen, daß die Stärkeverhältnisse sich jetzt geändert hatten und die Überzahl auf unserer Seite lag. Dem allen zufolge verlangten jetzt die höchsten Kreise in Petersburg und die Heerführer nach baldigem Angriff, welcher auf den 5. Oktober festgesetzt wurde.
Am Morgen des 4. Oktober unterschrieb Kutusow die Anordnungen zur Schlacht. Toll las sie Jermolow vor und bat ihn, die ferneren Verfügungen zu besorgen.
»Gut, meinetwegen«, sagte Jermolow und verließ die Hütte. Der Befehl zum Angriff war von Toll sehr gut abgefaßt und ausführlich niedergeschrieben worden, wenn auch nicht in deutscher Sprache.
»Die erste Kolonne geht dahin, die zweite Kolonne geht dorthin«, und so weiter. Und alle diese Kolonnen kamen auf dem Papier zur bestimmten Zeit an der richtigen Stelle an und vernichteten den Feind. Alles war wie bei allen Dispositionen vortrefflich ausgedacht, und – wie bei allen Dispositionen kam auch nicht eine Kolonne zur rechten Zeit auf der rechten Stelle an ….
Als die Disposition fertig geschrieben war in genügender Anzahl von Exemplaren, wurde ein Adjutant zu Jermolow gesandt, um ihm dieses Papier zur Ausführung zu übergeben. Aber der Adjutant fand Jermolow nicht zu Hause und suchte ihn vergebens bei verschiedenen Generalen und an verschiedenen anderen Stellen. Überall war der General nicht zu finden oder vor kurzem fortgeritten. Endlich hörte er aus einem Herrenhause fröhlichen Lärm und die lustigen Klänge eines Tanzliedes. Der Offizier trat ängstlich ein, denn es war schon neun Uhr und er hatte seinen Auftrag noch nicht ausgeführt. Im Vorzimmer und Speisezimmer drängten sich Diener mit Weinflaschen, an den Fenstern standen Sänger. Als er von Offizieren hereingeführt wurde, erblickte er plötzlich die höchsten Generale der Armee vor sich und darunter auch die große Gestalt Jermolows. Alle Generale standen mit aufgeknöpften Uniformen, mit roten, vergnügten Gesichtern laut lachend in einem Halbkreis, und in der Mitte des Saales tanzte ein kleiner General mit rotem Gesicht flink und gewandt den Trepak.
»Hahaha! Sieh doch, Nikolai Iwanitsch! Famos! Hahaha!«
Der Offizier fühlte, daß er sich jetzt doppelt schuldig machen würde, wenn er in diesem Augenblick mit einem wichtigen Befehl erscheinen würde, und wollte etwas warten. Aber einer der Generale erkannte ihn, und als er erfahren hatte, warum er gekommen war, teilte er es Jermolow mit. Mit finsterer Miene trat Jermolow auf den Offizier zu, hörte ihn an und nahm ihm das Papier ab, ohne ein Wort zu sprechen.
»Du glaubst, er sei zufällig ausgeritten«, sagte an diesem Abend ein Offizier des Stabes zu dem Adjutanten. »Das kennen wir! Das geschieht alles absichtlich! Warte nur, was das morgen für eine Grütze geben wird!«
Inhaltsverzeichnis
Am frühen Morgen des folgenden Tages erhob sich der altersschwache Kutusow, betete, kleidete sich an und setzte sich in die Kutsche mit dem unangenehmen Bewußtsein, daß er eine Schlacht lenken solle, die er nicht gutheißen konnte. Verschlafen horchte er darauf, ob er nicht von der rechten Seite Schüsse höre, aber alles war ruhig. In der Nähe von Tarutino bemerkte Kutusow einzelne Kavalleristen, die ihre Pferde zur Tränke führten. Kutusow ließ anhalten und fragte, von welchem Regiment sie seien. Die Kavalleristen gehörten zu einer Kolonne, die schon weit vorn sein sollte.
»Wahrscheinlich ein Irrtum«, dachte der alte Oberkommandierende.
Weiterhin erblickte Kutusow Infanterieregimenter, deren Gewehre noch in Pyramiden standen, während die Soldaten Grütze kochten. Er rief einen Offizier herbei und erfuhr, daß noch gar kein Befehl zum Angriff erfolgt sei.
»Wie? Was?« begann Kutusow, dann hielt er an und befahl, den ältesten Offizier zu rufen. Er stieg aus und ging mit gesenktem Kopf schwer atmend und schweigend auf und ab. Als der verlangte Generalstabsoffizier Eichen erschien, rötete sich Kutusows Gesicht nicht, weil dieser Offizier schuldig, sondern weil er ein passender Gegenstand zur Äußerung seines Zornes war. Zitternd und keuchend vor Wut stürzte der alte Mann auf Eichen zu, drohte ihm mit den Fäusten, schrie und stieß Schimpfworte aus. Ein anderer Kapitän, der ihm in die Nähe kam und auch ganz unschuldig war, erlitt dasselbe Schicksal.
»Was ist das noch für eine Canaille? Ich lasse die Schurken erschießen«, schrie er mit heiserer Stimme, schwankend und mit heftigen Gebärden. Er, der Oberkommandierende, der Durchlauchtigste, welchem eine so hohe Gewalt verliehen war, wie noch niemand zuvor in Rußland – er war in diese lächerliche Lage versetzt worden.
»Umsonst habe ich gebetet, die ganze Nacht nicht geschlafen und alles überlegt«, dachte er. »Als ich noch ein junges Offizierchen war, hätte niemand gewagt, mich so zu verlachen … Aber jetzt …« Er empfand physischen Schmerz, den er nur durch wütendes Schreien ausdrücken konnte. Bald aber verließen ihn seine Kräfte, er sah sich um und erinnerte sich, daß er vieles ausgesprochen hatte, was nicht schön war, setzte sich in die Kutsche und fuhr schweigend zurück. Seine Wut erneuerte sich nicht mehr, und Kutusow hörte müde und mit den Augen blinzelnd die Rechtfertigungen wie die eindringlichen Ratschläge von Bennigsen, Konownizin und Toll an, die mißlungene Bewegung auf den folgenden Tag aufzuschieben. Kutusow war genötigt, dazu seine Einwilligung zu geben.
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Am folgenden Tag sammelten sich die Truppen abends an den bestimmten Stellen und in der Nacht rückten sie vor. Es war eine dunkle Herbstnacht, aber ohne Regen. Es war verboten, laut zu sprechen und zu rauchen oder Feuer anzumachen. Die Leute marschierten vergnügt weiter, das Geheimnis des Unternehmens erhöhte seinen Reiz. Einige Kolonnen machten halt, stellten die Gewehre zusammen und legten sich auf die feuchte Erde, als sie glaubten, an der richtigen Stelle angekommen zu sein. Die meisten Kolonnen aber marschierten die ganze Nacht und kamen doch nicht an der bestimmten Stelle an. Nur Graf Orlow Denissow kam zur rechten Zeit auf dem bezeichneten Punkt an mit seinen Kosaken, welche eine der unbedeutendsten aller Abteilungen bildeten. Sie nahmen Stellung am äußersten Waldrand, an einem Fußweg von dem Dorf Stromilowa nach Dmitrowskoi.
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