Dottie Renfrew und Elinor Eastlake verließen gemeinsam die Kirche und traten hinaus in die Sonne. Der Ring war nicht gesegnet worden. Dottie runzelte die Stirn und räusperte sich: »Glaubst du«, wagte sie sich mit ihrer Bassstimme vor, »dass sie nicht doch irgendjemand als Brautführer hätte finden können? War da nicht ein Vetter in Montclair?« Elinor zuckte die Achseln. »Das hat nicht geklappt«, erwiderte sie.
Libby MacAusland, Studentin der Anglistik aus Pittsfield, trat jetzt hinzu. »Was gibt’s, was ist los? Auseinander, ihr Mädels!« Sie war eine große, hübsche Blondine, die ihre braunen Augen fortwährend aufriss, ihren Schwanenhals neugierig reckte und von einer etwas aufdringlichen Freundlichkeit war. In ihrem ersten Semester war sie Klassensprecherin gewesen, und um ein Haar wäre sie Präsidentin der Studentenschaft geworden. Dottie legte eine warnende Hand auf Lakeys seidenen Ellenbogen; Libby war bekanntlich eine hemmungslose Klatschbase und Schwätzerin. Lakey schüttelte Dotties Hand mit einer leichten Bewegung ab, sie hasste jede körperliche Berührung. »Dottie fragte gerade«, sagte sie mit Nachdruck, »ob es da nicht einen Cousin in Montclair gab?« Ein kaum merkliches Lächeln lag auf dem Grund ihrer grünen Augen, deren Iris ein eigentümlicher dunkelblauer Ring umrandete, ein Merkmal ihres Indianerbluts. Sie hielt nach einem Taxi Ausschau. Libby spielte übertrieben die Nachdenkliche und tippte mit einem Finger an die Mitte ihrer Stirn. »Ich glaube, es gibt tatsächlich einen«, stellte sie fest und nickte dreimal hintereinander. Lakey hob die Hand, um ein Taxi heranzuwinken. »Kay hat ihren Cousin verschwiegen, weil sie hoffte, eine von uns würde ihr etwas Besseres liefern.« – »Aber Lakey!«, hauchte Dottie und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Wirklich, Lakey«, kicherte Libby, »nur du kannst auf so was kommen.« Sie zögerte. »Wenn Kay tatsächlich einen Brautführer haben wollte, so hätte sie schließlich nur ein Wort zu sagen brauchen. Mein Vater oder mein Bruder hätten gern, jeder von uns hätte gern …« Ihre Stimme brach ab. Ihr schmaler Körper schwang sich in das Taxi, wo sie sich auf den Klappsitz setzte und mit grüblerischem Blick, das Kinn in die Hand gestützt, ihre Freundinnen betrachtete. Ihre Bewegungen waren rasch und unruhig – sie selbst sah sich als ein hochgezüchtetes, stürmisches Wesen, wie ein Araberhengst auf einem naiven englischen Jagdstich. »Glaubst du wirklich?«, wiederholte sie eindringlich und biss sich auf die Oberlippe. Aber Lakey sagte kein Wort mehr. Sie begnügte sich meist mit Andeutungen, weswegen man sie auch die Mona Lisa des Raucherzimmers genannt hatte.
Dottie Renfrew war bekümmert. Ihre behandschuhten Finger zerrten unentwegt an der Perlenkette, die sie zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag bekommen hatte. Ihr Gewissen bedrängte sie, was sich bei ihr gewohnheitsmäßig in einem leisen Hüsteln äußerte, das wiederum ihre Eltern so besorgt stimmte, dass sie Dottie zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zu Ostern, nach Florida schickten.
»Lakey«, sagte Dottie ernst, ohne Libby zu beachten, »eine von uns hätte das übernehmen müssen, findest du nicht auch?« Libby MacAusland rutschte mit unruhigen Blicken auf dem Klappsitz herum. Beide Mädchen starrten auf Elinors ovales, unbewegtes Gesicht. Elinors Augen wurden schmal, sie griff an ihren blauschwarzen Nackenknoten und steckte eine Haarnadel fest. »Nein«, sagte sie verächtlich, »das wäre ein Eingeständnis von Schwäche gewesen.«
Libby traten die Augen aus dem Kopf. »Wie hart du sein kannst«, sagte sie bewundernd. »Und dennoch betet Kay dich an«, sinnierte Dottie. »Früher mochtest du sie am liebsten, Lakey. Im Grunde deines Herzens ist es, glaube ich, wohl noch heute so.« Lakey lächelte über das Klischee. »Mag sein«, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an. Gegenwärtig mochte sie Mädchen wie Dottie, die eindeutig waren, wie ein Bild, das sich einem bestimmten Stil oder einer Schule zuordnen ließ. Die Mädchen, denen Lakey ihre Gunst schenkte, konnten sich meist nicht erklären, was ihr an ihnen gefiel. Sie empfanden mit einer gewissen Demut, dass sie völlig anders waren als Lakey. Untereinander sprachen sie oft über sie, wie etwa Spielzeuge über ihren Besitzer, und kamen zu dem Schluss, dass sie furchtbar unmenschlich sei. Aber das steigerte ihren Respekt für sie. Außerdem war Lakey sehr unbeständig, weswegen sie eine große Seelentiefe bei ihr vermuteten. Als das Taxi jetzt von der 9th Street in Richtung Fifth Avenue fuhr, fasste Lakey wieder einen ihrer plötzlichen Entschlüsse. »Ich möchte aussteigen«, befahl sie mit ihrer leisen, klaren, wohlklingenden Stimme. Der Fahrer hielt sofort, wandte sich um und sah zu, wie sie ausstieg, trotz ihrer Zerbrechlichkeit recht hoheitsvoll, in einem hochgeschlossenen schwarzen Taftkostüm mit weißem Seidenschal, einem kleinen melonenförmigen Hut und schwarzen Schuhen mit sehr hohen Absätzen. »Nun fahren Sie schon«, rief sie ungeduldig über die Schulter, als das Taxi noch immer hielt.
Die beiden Mädchen im Wagen sahen sich fragend an. Libby MacAusland streckte ihren Goldkopf, den ein Blumenhut zierte, aus dem Fenster. »Kommst du nicht mit?«, rief sie. Sie bekam keine Antwort. Sie sahen die aufrechte kleine Gestalt durch die Sonne auf den University Place zugehen. »Folgen Sie ihr«, sagte Libby zu dem Fahrer. »Dann muss ich um den Block herumfahren, meine Dame.« Das Taxi bog in die Fifth Avenue ein und fuhr am Brevoort vorbei, wo die übrigen Hochzeitsgäste gerade eintrafen. Es fuhr weiter die 8th Street hinauf und zurück zum University Place. Doch von Lakey war weit und breit nichts mehr zu sehen. Sie war verschwunden.
»Na so was!«, rief Libby. »Habe ich etwas Dummes gesagt?« – »Fahren Sie noch mal um den Block«, fiel Dottie ruhig ein. Vor dem Brevoort stiegen Kay und Harald gerade aus einem Taxi, die beiden erschrockenen Mädchen bemerkten sie nicht. »Ob sie sich plötzlich entschlossen hat, den Empfang sausen zu lassen?«, fuhr Libby fort, als das Taxi zum zweiten Mal erfolglos um den Block gefahren war. »Ich muss wirklich sagen, sie schien ja von Kay überhaupt nichts mehr wissen zu wollen.« Das Taxi hielt vor dem Hotel. »Was machen wir nun?«, fragte Libby. Dottie öffnete ihre Handtasche und reichte dem Fahrer einen Schein. »Lakey tut, was sie für richtig hält«, sagte sie beim Aussteigen energisch zu Libby. »Wir erzählen einfach, dass ihr in der Kirche schlecht geworden ist.« Libbys hübsches, knochiges Gesicht zeigte Enttäuschung, sie hatte sich schon auf einen Skandal gefreut.
In einem Extrazimmer des Hotels standen Kay und Harald auf einem verblassten geblümten Teppich und nahmen die Glückwünsche ihrer Freunde entgegen. Man reichte einen Punsch, über den die Gäste in Entzücken ausbrachen: »Was ist es?« – »Einfach köstlich.« – »Wie bist du darauf gekommen?« Und so weiter. Kay gab jedem das Rezept. Die Grundlage bestand aus einem Drittel Jersey-Apfelschnaps, einem Drittel Ahornsirup und einem Drittel Zitronensaft, dem White-Rock-Whiskey beigefügt war. Harald hatte den Apfelschnaps von einem befreundeten Schauspieler bekommen, der ihn seinerseits von einem Bauern bei Flemington bezog. Der Punsch war die Abwandlung eines Cocktails, der Applejack Rabbit hieß. Das Rezept war ein Eisbrecher. Genau das hatte Kay sich von ihm erhofft, wie sie Helena Davison zuflüsterte. Jeder kostete ihn prüfend und stimmte mit den anderen darin überein, dass das Besondere daran der Ahornsirup sei. Ein großer Mann mit strubbeligem Haar, der beim Radio tätig war, machte Witze über Jersey Lightning und erklärte dem gutaussehenden jungen Mann mit der gestrickten grünen Krawatte, das Zeug habe es in sich. Man sprach über Apfelschnaps im Allgemeinen und dass er die Menschen streitsüchtig mache. Die Mädchen lauschten gebannt, bis zum heutigen Tage hatte keine von ihnen je Apfelschnaps getrunken. Harald erzählte von einem Drugstore in der 59th Street, wo man rezeptpflichtigen Whiskey ohne Rezept bekomme. Polly Andrews besorgte sich vom Kellner einen Bleistift, um sich die Adresse aufzuschreiben. Im Sommer wollte sie in Tante Julias Wohnung allein hausen und brauchte deshalb gute Tipps. Dann erzählte Harald von einem Likör, der Anisette hieß. Ein Italiener vom Theaterorchester hatte ihm beigebracht, wie man ihn aus reinem Alkohol, Wasser und Anisöl, das ihm eine milchige Farbe wie Pernod verlieh, herstellte. Dann erzählte er von einem armenischen Restaurant, wo es zum Nachtisch ein Gelee aus Rosenblättern gab, und verbreitete sich über die Unterschiede zwischen türkischer, armenischer und syrischer Küche. »Wo hast du nur diesen Mann aufgetrieben?«, riefen die Mädchen wie aus einem Munde.
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