Eins führt zum anderen, und bald ist die junge Frau nicht mehr Lehrerin, sondern Personalreferentin an ihrer früheren Universität, der Loyola University in Rogers Park im Norden Chicagos. Ich habe eine Krankenversicherung. Ich nehme keine Arbeit mehr mit nach Hause. Mein Arbeitstag endet um 17 Uhr. Jetzt habe ich abends frei, um zu schreiben. Ich fühle mich wie eine echte Schriftstellerin.
An der Universität arbeite ich für ein Programm, das es inzwischen nicht mehr gibt, das Educational Opportunity Program zur Unterstützung »benachteiligter« Schüler. Die Arbeit entspricht meinen Überzeugungen, und ich kann weiterhin meinen ehemaligen Schülern helfen. Aber als meine klügste Schülerin angenommen wird, sie sich einschreibt und kurz darauf, noch im ersten Semester, hinschmeißt, breche ich vor Trauer und Erschöpfung über meinem Schreibtisch zusammen und würde am liebsten selbst alles hinschmeißen.
Ich schreibe über meine Schüler, weil ich nicht weiß, wohin sonst mit ihren Geschichten. Sie aufzuschreiben bedeutet, nachts schlafen zu können.
Wenn ich es schaffe die Schuldgefühle zu ignorieren und die Einladung meines Vaters, sonntags zum Abendessen vorbeizukommen, auszuschlagen, kann ich am Wochenende zu Hause bleiben und schreiben. Ich habe das Gefühl, eine schlechte Tochter zu sein, wenn ich meinem Vater nicht gehorche, aber wenn ich nicht schreibe, fühle ich mich noch schlechter. Egal wie, vollkommen glücklich bin ich nie.
Eines Samstags nimmt die Frau an der Schreibmaschine eine Einladung zu einem Literaturabend an. Aber als sie dort ankommt, merkt sie, dass es ein schwerer Fehler war. Die anwesenden Schriftsteller sind ausnahmslos alte Männer. Sie war von Leon Forrest eingeladen worden, einem schwarzen Autor, der höflich sein und mehr Schriftstellerinnen und People of Color einladen wollte, aber bisher war sie die einzige Frau, und sie beide waren die einzigen Nicht-Weißen.
Sie ist hier als Autorin des neuen Gedichtbands Bad Boys , erschienen bei Mango Press, der literarischen Bestrebungen von Gary Soto und Lorna Dee Cervantes. Ihr Buch ist vier Seiten lang und wurde mit Hilfe eines Tackers und eines Löffels auf einem Küchentisch gebunden. Wie sie schnell feststellt, haben die meisten anderen Gäste echte Bücher geschrieben, Hardcover bei großen New Yorker Verlagen, die in Auflagen von Hunderten oder Tausenden in echten Druckereien gedruckt worden waren. Ist sie wirklich eine Schriftstellerin, oder tut sie nur so?
Der Ehrengast ist ein berühmter Autor, der einige Jahre vor ihr auch am Iowa Writers’ Workshop teilgenommen hat. Sein neuestes Buch ist gerade nach Hollywood verkauft worden. Er spricht und gibt sich, als sei er der Herrscher über Alles.
Am Ende des Abends sucht sie nach einer Mitfahrgelegenheit. Gekommen ist sie mit dem Bus, und der Herrscher bietet ihr an, sie nach Hause zu fahren. Aber sie will nicht nach Hause. Sie ist fest entschlossen, sich einen Film anzusehen, der nur heute Abend läuft. Sie hat Angst, allein ins Kino zu gehen, und genau deshalb hat sie beschlossen hinzugehen. Weil sie sich davor fürchtet.
Der berühmte Autor fährt einen Sportwagen. Die Sitze riechen nach Leder, und das Armaturenbrett sieht aus wie ein Flugzeugcockpit. Ihr eigenes Auto springt nicht immer an und hat neben dem Gaspedal ein Loch im Boden, durch das Regen und Schnee spritzt, deshalb muss sie beim Fahren immer Stiefel tragen. Der berühmte Autor redet ununterbrochen, aber sie hört kein Wort von dem, was er sagt, denn ihre eigenen Gedanken übertönen ihn wie Wind. Sie sagt nichts, muss es auch gar nicht. Sie ist jung und hübsch genug, um dem Ego des berühmten Autors zu schmeicheln, indem sie zu allem, was er sagt, zustimmend nickt, bis er sie vor dem Kino absetzt. Sie hofft, dass der berühmte Autor zur Kenntnis nimmt, dass sie sich allein Blondinen bevorzugt ansehen will. Um die Wahrheit zu sagen: Ihr ist elend zumute, als sie allein zum Ticketschalter geht, aber sie zwingt sich, eine Karte zu kaufen und reinzugehen, weil sie diesen Film liebt.
Das Kino ist gerammelt voll. Die Frau hat den Eindruck, als sei jeder der Anwesenden in Begleitung da, nur sie nicht. Endlich die Szene, in der Marilyn Monroe »Diamonds Are a Girl’s Best Friend« singt. Die Farben so prächtig wie in einem Cartoon, das Set herrlich kitschig, der Liedtext klug, die ganze Nummer versprüht Old-Style-Glamour. Marilyn ist sensationell. Als ihr Song vorbei ist, applaudieren die Kinobesucher, als stünde sie live auf der Bühne, aber leider ist die arme Marilyn schon seit Jahren tot.
Die Frau, die ich bin, geht stolz nach Hause, weil sie allein ins Kino gegangen ist. Siehst du? War doch gar nicht so schwer . Aber als sie die Tür ihrer Wohnung hinter sich verriegelt, bricht sie in Tränen aus. »Ich hab keine Diamanten«, schluchzt sie, obwohl sie nicht weiß, was das bedeuten soll, allerdings weiß sie bereits, dass es gar nicht um Diamanten geht. Alle paar Wochen hat sie einen unschönen Heulkrampf wie diesen und fühlt sich danach jedes Mal hilflos und wie gescheitert. Es passiert so regelmäßig, dass sie denkt, diese Depressionsstürme wären so normal wie Regenschauer.
Wovor hat die Frau auf dem Foto Angst? Sie hat Angst, im Dunkeln vom Parkplatz in ihre Wohnung zu laufen. Sie hat Angst vor den polternden Geräuschen in den Wänden. Sie hat Angst, sich zu verlieben und sich deshalb für den Rest ihres Lebens an Chicago zu binden. Sie hat Angst vor Geistern, tiefem Wasser, Nagetieren, der Nacht, vor Dingen, die sich zu schnell bewegen – Autos, Flugzeuge, ihr Leben. Sie hat Angst, wieder bei ihren Eltern einziehen zu müssen, wenn sie nicht mutig genug ist, allein zu leben.
Und während alledem schreibe ich Geschichten unter dem Titel Das Haus in der Mango Street . Manchmal schreibe ich über Menschen, an die ich mich erinnere, manchmal schreibe ich über Menschen, die ich gerade erst getroffen habe, oft vermische ich beides. Meine Schülerinnen in Pilsen, die während des Unterrichts vor mir saßen, mit Mädchen, die zehn Jahre früher in einem ganz anderen Klassenzimmer in der Highschool neben mir saßen. Ich nehme Bruchstücke aus Bucktown, wie den Affengarten nebenan, und versetze ihn in den Häuserblock am Humboldt Park, in dem ich während meiner Schulzeit wohnte – 1525 North Campbell Street.
Oft habe ich nur einen Titel ohne Geschichte – »Die Familie mit den kleinen Füßen« –, und ich muss mir selbst in den Hintern treten, damit ich anfange zu schreiben. Manchmal habe ich auch nur den ersten Satz – »Man kann nie zu viel Himmel haben«. Eine meiner Schülerinnen in Pilsen behauptete, ich hätte das einmal gesagt und sie habe es nie vergessen. Zum Glück hat sie sich den Satz gemerkt und ihn mir gegenüber noch mal zitiert. »Sie kamen mit dem Augustwind …« Diese Zeile fiel mir im Traum ein. Die besten Ideen kommen manchmal im Traum. Und die schlechtesten auch!
Egal ob die Idee von einem Satz stammt, den ich irgendwo aufgeschnappt und mir gemerkt habe, oder von einem Titel, den ich gefunden und eingesackt habe, die Geschichten schreiben mir immer vor, wie sie enden wollen. Oft überraschen sie mich mit einem abrupten Schluss, wenn ich doch vorhatte, auf ihnen noch ein ganzes Stück weiterzugaloppieren. Sie sind stur. Sie wissen am besten, wann es nichts mehr zu sagen gibt. Der letzte Satz muss in den Ohren klingeln wie die letzte Note eines Mariachi-Lieds – tan-tán –, damit man weiß, dass es vorbei ist.
Die Leute, über die ich geschrieben habe, waren größtenteils real, sie waren von hier und dort, heute und damals, aber manchmal habe ich drei echte Personen zu einer fiktiven zusammengeflochten. Wenn ich der Meinung war, mir eine Figur auszudenken, stellte sich für gewöhnlich heraus, dass es sich um eine Person handelte, an die ich lange nicht gedacht hatte, oder um eine, die mir so nahestand, dass ich die Ähnlichkeit gar nicht bemerkte.
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