Einen Bachelor- und Masterabschluss in der Rekordzeit von 20 Monaten statt in fünf Jahren abzuschließen, scheint also zu verfehlen, was Bildung seit der Aufklärung meint: Befähigung zur Selbstorganisation und kenntnisreicher Reflexion. Von bildungsinstitutioneller Warte aus formuliert: Wer schneller studiert, verdirbt die Norm. Und wer sich solchermaßen nur im Speed-Dating-Modus auf Kenntnis und Reflexion einlässt, heizt jene Ökonomisierung nur noch zusätzlich an, der die gesamte geistig-kulturelle Lebenswelt des globalisierten westlichen Europa ohnehin schon unterliegt.
Ein Studium muss nicht drei oder fünf Jahre Lebenszeit kosten.
So und ähnlich lauten Vorurteile wie Argumente einer verbreiteten Vorstellung, die Bildung und Geschwindigkeit nach wie vor als einander ausschließende Größen betrachtet – unter der Voraussetzung im Übrigen, dass das Humboldt’sche Bildungsideal unantastbar ist auch in Zeiten fortschreitender Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Man findet diese Positionen in den institutionalisierten Debatten zwischen Hochschulpolitik und der Bildungspolitik des Bundes, denn sie gehören zum Kernbestand der öffentlichen Meinung auch im mittlerweile elften Jahr nach Einführung jener Bologna-Bildungsreform, die unter anderem die Abschaffung des Langzeitstudiums zum erklärten Ziel erhoben hatte (Studien zufolge dauert ein komplettes Studium aus Bachelor- und Masterabschluss heute tatsächlich nicht kürzer, sondern mindestens ebenso lange wie in den alten Studiengängen vor der Reform).
Bildung und Geschwindigkeit – ein Gegensatzpaar? Bildung als Garant für Tiefe, Geschwindigkeit als Einfallstor für Oberflächlichkeit? Langsamkeit also als Bedingung akademischer Reife? Diese Fragen suggerieren Folgendes: Eine Sache, die nach herkömmlicher Meinung eigentlich viel Zeit braucht, verliert dadurch an Wert, dass sie stark komprimiert wird.
Zeitvergeudung durch redundante Inhalte
Als erfolgreiche Turbo-Studenten sind wir aus mehreren Gründen anderer Meinung, nicht nur, weil das Schneller-studieren-Wollen Teil des allgemeinen Schnelligkeitswettbewerbs in unserer durchdigitalisierten, elektronisch und medial grundbeschleunigten Welt ist. Unser eigenes Schnellstudium hat uns andere Erfahrungen vermittelt – vor allem diese: dass ein berufsvorbereitendes Studium nicht unbedingt drei oder gar fünf Jahre kostbarer Lebenszeit zu beanspruchen braucht. Dass sich in einem stark beschleunigten Studium Fähigkeiten entwickeln und trainieren lassen, die für das anschließende Berufsleben wichtiger sein können als langsam erworbenes, vielfach schon bald überholtes Fachwissen, und dass Bildung ein Kapital ist, das möglichst frühzeitig beim beruflichen Einstieg und Aufstieg behilflich sein sollte, wofür ein Express-Studium nach unserer »Machart« die Voraussetzung sein kann. Nicht nur um Geschwindigkeit beim Absolvieren der einschlägigen fachwissenschaftlichen Inhalte geht es also beim Turbo- Studium. Es geht auch um Selbstbestimmung und Selbstständigkeit beim Gestalten von Lernmethoden, um das Ausbilden von Kompetenzen infolge Beschleunigung, um universell anwendbare und berufspraktisch übertragbare Strategien der Effizienzsteigerung.
Darüber hinaus: Wie viel Leerstellen enthält ein angeblich so überfrachtetes Studium an deutschen Universitäten und Hochschulen auch nach der Bologna-Reform immer noch? Wie viel Zeit wird vergeudet, weil man trotz des überall ausgerufenen »Medienzeitalters« und der »Web-2.0-Welt« aufgrund fehlender Online-Vorlesungen und Online-Übungen von Ort zu Ort fahren muss? Und wie viel Zeit bleibt ungenutzt, weil man laut Studienplan mit Modulvorlesungen redundante Inhalte zu lernen hat, statt dass individuelle Geschwindigkeiten des Lernens oder spezifische Lerninteressen befördert werden? Alles das nur, um sich danach so richtig »durchgebildet« zu fühlen?
Entschieden fällt folgerichtig unser Plädoyer für mehr strukturierte Reform aus und meint: mehr Flexibilität und Entscheidungsfreiheit gemäß individueller Lerntypik wäre nach unserer Ansicht und Studienerfahrung der Fluchtpunkt, den eine Reform, die den Namen verdient, nehmen sollte – und möglichst nicht erst morgen, sondern heute.
2. An Bologna scheitern oder das Steuer selbst in die Hand nehmen
Fehlende Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Hochschulen
An dieser Stelle scheint eine weitere hochschulpolitische Zwischenüberlegung nötig. Ist es nicht paradox, in Zeiten eines durch die Bologna-Studienreform ohnehin beschleunigten Hochschulstudiums für den Turbo-Abschluss zu plädieren? Wäre es nicht im Sinn einer soliden Bildungsstrategie, sich gerade angesichts umgreifender Beschleunigungsprozesse in Sachen Bildung für Verlangsamung des Studiums einzusetzen, für mehr Zeit bei der Bewältigung von modularisierten Arbeitsbelastungen, für mehr Vertiefung und Qualität in den Lerninhalten und letztlich auch mehr zeitlichen Spielraum für Zusatzprogramme wie Auslandsaufenthalt oder berufsspezifisches Praktikum?
Dem gegenüber stehen einerseits die gewachsenen Qualifikationsanforderungen an einem dynamisch wachsenden Arbeitsmarkt, die gestiegenen Anforderungen von Unternehmen an persönliche und fachliche Flexibilität. Andererseits ist ein wichtiges Ziel auch der Verfechter der traditionellen Bildungsidee längst noch nicht eingelöst: die Ersetzung von Verordnungen, Reglementierungen, bürokratischen Systemvorgaben durch Anreizsysteme, welche die Selbstverantwortlichkeit, Eigeninitiative und Motivation der Studierenden fordern und befördern. Ebenso wenig kann von einer gesteigerten Mobilität und Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Hochschulen und Hochschularten (öffentlich vs. privat) die Rede sein. Nicht einmal die hochschulübergreifende Anerkennung zertifizierter Abschlüsse ist von Bundesland zu Bundesland für jeden Studierenden heute gesichert.
Wer die aktuellen Debatten im Kontext des zehnjährigen Bologna- Reform-Jubiläums betrachtet, könnte daher tatsächlich zu dem Ergebnis kommen, dass nur ein radikaler Kurswechsel innerhalb des europäischen Reformprojekts »Bologna« dazu führen wird, dass die Reform in absehbarer Zeit jene Ziele erreicht, deren Umsetzung sie bis heute für Studierende wie Hochschulverantwortliche schuldig geblieben ist. Das bedeutet allerdings, im Warten auf politische Lösungen wertvolle Zeit und Selbstinitiative zu verlieren. Und auf weitere Verlangsamung zu setzen, birgt in diesem Zusammenhang auch die Gefahr, die seit der Bologna-Reform erhöhte Bürokratisierung (ECTS-System, Zertifizierungen etc.) weiter zu befördern. Wer sollte daran ernstlich ein Interesse haben? So bleibt die Suche nach aktiven und selbstverantwortlichen Auswegen aus der europäischen Reform- Sackgasse in unseren Augen das Gebot der Stunde.
Boykott und Unmut gegen Pseudo-Reform
Das Ziel, Studenten beschleunigt zum Abschluss zu führen, gehörte zwar zu den ursprünglichen Leitideen des hehren Bologna-Reformprojekts. Nach einem ganzen Jahrzehnt verpasster Änderungschancen wird heute jedoch im Tenor bilanziert, dass die Rahmenbedingungen für das Studieren nicht wirklich der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit angepasst wurden. Was aber bleibt Positives von einer Reform zu halten, wenn sie genau das nicht leistet?
Statt die Probleme bei der Wurzel zu packen, verlieren sich die hochschulpolitischen Debatten zwischen Studierendenvertretern und Kultusministern, Professoren, Hochschulrektoren und Hochschulleitungen bis heute in gegenseitigen Schuldzuweisungen für eine ehrgeizige, jedoch verpatzte Reform. So bleibt viel Reformpotenzial häufig entweder in Unmutsbekundungen, anklagender Kritik oder auch gleich in Boykotthaltungen stecken – mit dem aus unserer Sicht entscheidenden Nachteil, dass der Gestaltungsspielraum der Reform bis heute noch nicht radikal von den Betroffenen selbst – den Studierenden – in ihrem Sinn genutzt werden kann.
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