Arbeit nach menschlichem Maß gestalten: Dieses Ziel gilt immer noch
Denn jenseits unserer individuellen Persönlichkeit agieren und reagieren wir alle nach bestimmten evolutionär und genetisch geprägten Schemata, Denkmustern und Instinkten. Daher geht es bei einem »Cooldown der Arbeitswelt« nicht nur um die Integration der eigenen Persönlichkeit in ein bestimmtes Umfeld oder um die Verbesserung von Strukturen in der Arbeitswelt.
Es geht auch um die Frage, wie wir unser evolutionäres Menschsein mit der modernen Arbeitswelt versöhnen. Was wir tun können, wenn die Neuropsychologie des Menschen auf Hyperkommunikation und die ausufernde Komplexität moderner Arbeitsplätze trifft. Wie sollen wir uns in modernen Gruppen und Netzwerken zurechtfinden, wenn wir als Herdenwesen von bestimmten Instinkten und Eigenschaften gelenkt werden? Ignorieren wir unsere biologische Grundausstattung, wenn wir unsere Aufgaben strukturieren, wenn wir kommunizieren, sogar wenn wir unser Büro gestalten, dann werden wir irgendwann Schiffbruch erleiden bzw. die nächste Notaufnahme auch einmal von innen sehen.
Damit es dazu nicht kommt, habe ich in diesem Buch einige entsprechende Ideen zusammengefasst und daraus ein Modell geformt, das INSEL-Modell *. Es ist natürlich nicht alles neu. Manches ist schon gedacht und gesagt worden. Das vermindert jedoch nicht dessen grundsätzliche Richtigkeit. Manchmal muss man Dinge einfach mehrmals sagen, bevor sie verstanden und umgesetzt werden. Fragen Sie mal Ihre Kinder (oder Ihre Eltern). Mir geht es darum, Probleme von Organisationen mit einem praktischen Ansatz zu lösen. Hierbei schließe ich sehenden Auges einen Kompromiss: Weder theoretische Erschöpfung noch eine völlig theoriefreie Perspektive halte ich für zielführend. Daher spiegelt das vorliegende Buch meine professionelle Meinung als Psychologe, meine ganz persönliche Erfahrung als (Ex-)Angestellter, Coach und Berater wider sowie einen individuell kreativen Ansatz. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ich hoffe, Sie haben beim Lesen genauso viel Spaß wie ich beim Schreiben. Und natürlich wünsche ich mir, dass Sie einiges für sich umsetzen können, bei sich selbst oder in Ihrer Firma. Schreiben Sie mir, welche Erfahrungen Sie mit der Umsetzung gemacht haben, was Sie gut fanden oder auch nicht so gelungen. Ich freue mich immer, wenn mir Leser Feedback geben, denn man lernt auch als Psychologe und Autor nie aus.
Dieses Buch bietet Lösungen an. Aber kein »one size fits all«
Ich glaube, der moderne Mensch (der ja auch ein arbeitender Mensch ist) hat kein Interesse daran, nur zu jammern und Zustände zu beklagen. Er will Lösungen, die er umsetzen kann – nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in der Umwelt, in der Wirtschaft oder der Politik. Daher geht das vorliegende Buch über die Analyse von Organisationen hinaus und bietet eine Lösung an. Damit macht man sich angreifbar, weil Lösungen im betrieblichen Umfeld selten eine »one size fits all«-Lösung sein können. Dennoch glaube ich, die INSEL kann einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung in Organisationen leisten. Bertolt Brecht hat gesagt: »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.« Dieses Bonmot, leicht umformuliert, trifft es ganz gut: »Wer kreativ entwickelt, riskiert. Wer nur kritisiert, bleibt stehen.«
*Das INSEL-Modell ist eine eingetragene Wortmarke.
Teil I
Alles Lebendige verändert sich fortwährend
Leben bedeutet Veränderung. Wir werden geboren, werden älter und sterben schließlich – der normale Zyklus des Lebens. So gut wie alle regulativen Vorgänge in der Natur unterliegen diesen Zyklen. »Panta rhei»– alles fließt, wussten schon die alten Griechen. Das Einzige, was in der Welt sicher ist, ist die Unsicherheit, die Veränderung. Alles verändert sich fortwährend, wandelt seine Gestalt, passt sich an, tritt ein in die ewigen Wechselläufe der Evolution. Von den philosophischen Schulen über den Naturforscher Charles Darwin bis zu den Astrophysikern unserer Tage, die Sternen bei Geburt und Tod zusehen, ist die Erkenntnis der steten Veränderung eine Grundlage unseres Weltverständnisses.
Das Erkennen dieser transformationalen Muster ist laut Darwin unerlässlich für das Überleben einer Art: »Intelligence is based on how efficient a species became at doing the things they need to survive.« 1Nach Darwin zeigt sich in der Anpassungsfähigkeit von Tier und Mensch seine Intelligenz, die Fähigkeit zu überleben. In einer komplexen Gesellschaft wie der unseren gehört zu solch einem »Erkennen« nicht nur die Dynamik des eigenen Lebens. Wir sind spätestens seit der beginnenden Industrialisierung vor 200 Jahren als Gesellschaften politisch, wirtschaftlich und technologisch so eng miteinander verflochten, dass wir komplexe Systeme des Zusammenlebens – sichtbar in Staatensystemen, Handelsbeziehungen und Kommunikationstechnologien etc. – benötigen und schaffen. Die oftmals zitierte »Globalisierung« unserer Tage ist dabei nur eine Facette, eine neue, größere Spielart der Vernetzung.
Erkennen wir die stetige Veränderung (Transformation) auf allen individuellen, sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebenen als Tatsache an, so können wir innerhalb dieser Transformationen bedeutende und weniger bedeutende Bewegungen ausmachen. Quasi Haupt- und Nebentransformationen, die mal größere, mal kleinere Wirkungen hervorrufen. So mag eine Urlaubsreise für das weitere Leben von geringerer Bedeutung sein. Die guten und schlechten Erlebnisse am Urlaubsort beeinflussen das eigene Wohlbefinden und dienen im besten Fall als positive emotionale Stärkung. Um einiges mehr wird das Leben durch den Tod einer geliebten Person, vielleicht des Partners, erschüttert. Diese emotionale Transformation geht viel tiefer, sie durchdringt die inneren Schichten unserer Persönlichkeit und stößt intensive Verarbeitungsprozesse an. Am konsequentesten geschieht diese persönliche Transformation in der Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit: der Diagnose einer Krebserkrankung zum Beispiel oder eine Nahtod-Erfahrung. In dieser letzten Variante geschieht Veränderung nicht nur im Beobachten des Außen, sondern radikaler in der Veränderung der eigenen Person und der individuellen Weltsicht.
Es geht hier nicht um das Ausschmücken von Horror-Szenarien. Ich will lediglich feststellen, dass es Zeitpunkte und Ereignisse in unserem Leben gibt, die so intensiv sind, dass sie uns als Person – unsere Werte und unsere Einstellung zur Welt – verändern, »transformieren« können. Dies gleicht einer Erschütterung – selbstverständlich auch in der Möglichkeit zum Positiven.
Was nun für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für größere Gruppen, ja ganze Gesellschaften. Beispielsweise ist die größte psychologische Transformation, die Deutschland je erlebt hat, die Herrschaft und der Niedergang des Nationalsozialismus. Diese Transformation war in ihren Ursachen, Dimensionen und Folgen so verheerend und gewaltig, dass ihre Nachwehen noch heute spürbar sind. Immer noch sind wir als Kollektiv mit dem Bewältigen der Vergangenheit beschäftigt, in Form von Büchern, Fernsehsendungen, Denkmälern, Demonstrationen etc. In kleinen gesellschaftlichen und sozialen Nachbeben bearbeiten wir immer noch das Trauma des Nazi-Regimes. Ebenso könnte man den amerikanischen Bürgerkrieg für die USA oder die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki als Traumata ansehen, deren transformatorische Wellen immer noch deutlich sichtbar sind.
Bevor ich zu den wirtschaftlichen und psychologischen Transformationen komme, die ich für wesentlich halte, möchte ich dem Leser ein Transformationsmodell vorstellen, dass eine größtmögliche historische und globale Perspektive aufzieht: die Theorie der »Dritten Welle« des Futurologen Alvin Toffler. Diese Theorie halte ich für so bedeutend, dass ich sie hier aus einem der Hauptwerke Tofflers etwas ausführlicher zitieren will. Toffler schrieb sein Buch »Die Zukunftschance« (Originaltitel: »The Third Wave«) 1980 (!), skizzierte darin jedoch bereits soziale und technologische Revolutionen, die erst um die Jahrtausendwende hin zum 21. Jahrhundert einsetzten. Toffler schreibt:
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