Cinzia Sciuto
Die Fallen des Multikulturalismus
Laizität und Menschenrechte
in einer vielfältigen Gesellschaft
Aus dem Italienischen von Johannes von Vacano
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel Non c’è fede che tenga. Manifesto laico contro il multiculturalismo bei Feltrinelli in Mailand erschienen.
© 2018 Feltrinelli, Mailand
© 2020 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)
www.rotpunktverlag.ch
eISBN 978-3-85869-891-9
1. Auflage 2020
Meiner Schwester Serena,
die mir beigebracht hat,
hartnäckig zu sein
Einleitung
Die Prämissen dieses Buchs
Der Aufbau des Buchs
1.Laizität als Voraussetzung der Demokratie
Laizisten und Gläubige, ein falscher Gegensatz
Laizität und Säkularisierung, nicht nur im Westen
Konfessionalismus oder Laizität – tertium non datur
Laizität als Selbstbestimmung
2.Religion als gesellschaftliches und kulturelles Phänomen
Gegen den Essenzialismus
Religionen im Diesseits
Privilegien der Religionen
Fundamentalisten aller Länder vereinigt
Fundamentalismen und Frauenrechte. Warum Feminismus ausschließlich laizistisch sein kann
3.Der Islam – eine neue europäische Religion
Die vielen Gesichter des Islams in Europa
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Islamophobie
Die »Kopftuchfrage« – worum es nicht geht
Kopftuch und Entscheidungsfreiheit
Die Bedeutung des Kopftuchs und seine politische Verwendung
Verbieten oder nicht verbieten – das ist hier nicht die Frage
4.Die Aporie der Identität
Das Bedürfnis nach Identität
Vom Individuum zur Gruppe und andersherum. Die Wege der Identität
Auf der Seite des Individuums, gegen den Individualismus
Universale Emanzipation versus identitäre Anerkennung
5.Individuum versus Gemeinschaft. Multikulturalismuskritik aus kosmopolitischer Perspektive
Die Täuschung des Multikulturalismus
Das Missverständnis des »Respekts« und die unbewussten Rassisten
Gruppenrechte – eine Contradictio in Terminis
Finger weg von den Kindern
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich
Die Light-Variante des Rechtspluralismus. Akkomodationismus und Pontiuspilatismus
Ein Beispiel von Rechtspluralismus: die Scharia-Tribunale
Der kosmopolitische Standpunkt
Als Schluss. Für ein Projekt universaler Emanzipation
Anmerkungen
Bibliografie
Dank
»Die Zukunft hängt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig.«
Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Einleitung
Die Prämissen dieses Buchs
Diese Untersuchung geht von der ganz allgemeinen Prämisse aus, dass wir in Europa heutzutage in Gesellschaften leben, die in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht immer komplexer werden. Diese Situation rührt zum Teil von den Migrationserscheinungen her, die unsere Epoche prägen, zum Teil aber auch vom generellen Verlust eines einheitlichen kulturellen Horizonts innerhalb der jeweiligen politischen Gemeinschaft. Mit anderen Worten, unsere Gesellschaften werden immer inhomogener, was sicher auf neue kulturelle Elemente zurückgeht, die von außen eingegeben werden, was aber auch an zentrifugalen Schüben im Inneren liegt, die flüchtige Gesellschaften ausmachen. 1
Gegenüber dieser Tatsache lassen sich drei verschiedene Standpunkte einnehmen: Erstens kann man sie per se als einen Unwert betrachten und folglich eine Rückkehr zu möglichst homogenen Gemeinschaften herbeiwünschen (sofern es überhaupt jemals Gemeinschaften einer gewissen Größe gegeben hat, die man wirklich homogen nennen könnte). Das führt unmittelbar – und notwendigerweise – zu einer antidemokratischen, identitären und extrem rechten Politik. Zweitens kann man sie per se als Wert betrachten und sich einer »unsichtbaren Hand« anvertrauen, die dieses Gemenge mit der Zeit schon in Einklang bringen wird (eine fideistische Haltung, die an Aberglauben grenzt). Drittens kann man sie als hochgradig ambivalentes Phänomen betrachten, das keine intrinsische Rationalität aufweist und weder einen eigenen Zweck verfolgt noch per se einen Wert oder Unwert darstellt, als ein soziales und menschliches Phänomen, das daher mit einer kritischen Haltung und mithilfe einer entschlossenen politischen Vision untersucht, verstanden und behandelt werden muss. Eine solche kritische Haltung ist meiner Meinung nach als einzige einer demokratischen und progressiven Betrachtungsweise angemessen.
Neben diese faktische Prämisse wird eine Wertprämisse gestellt, eine eindeutige ethisch-politische Ausrichtung. Im Folgenden wird dargelegt, weshalb unter Voraussetzung der genannten Fakten und aus der genannten ethisch-politischen Perspektive die vorteilhafteste Haltung eines freiheitlich-demokratischen Staates angesichts dieser Komplexität eine strikte Laizität ist.
Im Gegensatz zur Aussage Jürgen Habermas’, dem zufolge »in komplexen Gesellschaften die Gesamtheit der Bürger nicht mehr durch einen substanziellen Wertekonsens zusammengehalten werden kann, sondern nur noch durch einen Konsens über das Verfahren legitimer Rechtsetzung und Machtausübung«, 2 muss man meiner Meinung nach gerade in komplexen Gesellschaften unbedingt einen Kern gemeinsamer substanzieller Werte identifizieren. Dieser Kern darf ruhig klein sein, wenn er nur stabil ist, und er muss, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die Menschenrechte und Laizität enthalten.
An dieser Stelle muss die ethisch-politische, also normative Betrachtungsweise unterstrichen werden, die dieser Arbeit zugrunde liegt. Allzu häufig wird nämlich im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs der normative Ansatz zugunsten einer Sichtweise vernachlässigt, die als deskriptiv und soziologisch gilt und vorgibt, neutral zu sein. Der Verzicht auf eine normative Herangehensweise bedeutet jedoch auch, dass man auf die Politik verzichtet und sich schlichtweg von den Ereignissen mitreißen lässt, als ob die Geschichte bereits in Stein gemeißelt wäre.
Um diese Gefahr zu verdeutlichen, sei zitiert, was der französische Politikwissenschaftler und renommierte Islamexperte Olivier Roy im Hinblick auf Zwangsehen schreibt – eine Entwicklung, die sich leider auch in Europa wieder zunehmend ausbreitet: »Die Presse spricht ständig von ›Zwangsehen‹, dabei sind die meisten dieser Ehen keinesfalls ›erzwungen‹, sondern ›arrangiert‹, was bedeutet, dass das Mädchen sich dafür entscheidet, mitzuspielen.« 3Das klingt, als würde das Fehlen physischer Zwänge genügen, um den Zwangscharakter zu eliminieren. Eine Beobachtung der tatsächlichen Dynamiken solcher Eheschließungen – was selbstverständlich unverzichtbar ist, um das Phänomen zu analysieren – ersetzt jedoch keinesfalls die ethisch-politische Einschätzung: Eine Ehe ist »erzwungen« nicht bloß in den seltenen Fällen, in denen physischer Zwang ausgeübt wird, sondern immer dann, wenn der Wille derjenigen, die eine Ehe einzugehen im Begriff sind, nicht beachtet, erstickt, untergeordnet, unterdrückt oder auch nur verfälscht wird. Und im Fall der sogenannten »Kindsbräute« handelt es sich ausnahmslos um Zwangsehen, per definitionem, selbst wenn eine ausdrückliche Zustimmung seitens der Braut vorliegen sollte: Angesichts ihres Alters – fünfzehn, dreizehn, manchmal sogar bloß elf Jahre – kann nicht von einer wirklich freien Entscheidung ausgegangen werden. Es sind zahllose Ursachen denkbar, weshalb ein Mädchen, um es mit Roy zu sagen, »sich dafür entscheidet, mitzuspielen«, was aber das »Spiel« keinesfalls weniger erzwungen macht.
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