Emma
"Können Sie bitte noch einmal nachsehen? Ich muss auf der Liste stehen! Ich habe mich ganz sicher für dieses Schuljahr angemeldet", flehte ich die ungehobelte Dame an.
Sie seufzte genervt.
"Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, hier befindet sich keine Emma Hallstedter!"
Ich blickte verstohlen auf ihre Liste. Angestrengt versuchte ich zu erkennen, welche Klasse als Überschrift darauf stand. Da ich auf dem Kopf lesen musste, war das gar nicht so leicht. Ich entzifferte eine "1" und dahinter ein "a_3". Das kleine "a_3" irritierte mich. Ich sah hastig auf mein Einladungsschreiben. Tatsächlich. Da stand, dass ich in der Klasse 1a_2 war. Ich räusperte mich.
"Kann es sein, dass Sie die falsche Liste haben? Auf meiner Einladung steht, dass ich in der Klasse 1a_2 bin, nicht in der 1a_3", versuchte ich sie sanft darauf hinzuweisen.
Die Frau hob den Kopf und sah mich mit böse funkelnden Augen an.
"Wollen Sie mir jetzt auch noch sagen, wie ich meinen Job zu machen habe?"
Sie riss mir den Brief aus der Hand, checkte kurz die Klasse auf dem Schreiben und überprüfte dann ihre Liste. Sie schien den Fehler zu bemerken. Ganz kurz huschte ein verwirrter Blick über ihr Gesicht, bevor sich ihre Züge wieder in die selbstgefällige Miene verwandelten, die sie an den Tag legte. Sie griff nach einem Stift und hakte mich auf der Liste ab.
"Sie können gehen" war alles, was sie zu mir sagte. Keine Entschuldigung. Nicht mal ein Lächeln.
Jetzt war jedoch keine Zeit, um mich über sie zu ärgern. Ohne ein Wort darauf zu erwidern, rannte ich den Gang entlang. Eine Minute nach Elf Uhr. Ich kam vor einer dunklen Doppeltür aus Holz zum Stehen. Ich atmete tief durch und stieß die Tür auf.
Sämtliche Köpfe fuhren wie auf Kommando herum und musterten die Person mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen, die es sich erlaubte, zu spät zur Einführung zu kommen: mich. Ich schluckte. Na, wenn das mal kein peinlicher Auftritt ist, den du hier hinlegst!, dachte ich betreten und schloss die Tür. Es war totenstill.
Während ich hektisch den Mittelgang auf der Suche nach einem freien Platz entlangschritt, starrten mich alle an. Ich hasste es, wenn sich alle Augen auf mich richteten und ich im Mittelpunkt stand. Am liebsten wäre ich ganz tief im Erdboden versunken! Warum ist denn hier nirgendwo ein freier Platz?, fluchte ich innerlich.
Die Frau, die vorne auf einer kleinen Bühne an einem Rednerpult stand, blickte erwartungsvoll auf mich herab.
"Und Sie sind?", fragte sie genervt.
"Emma Hallstedter", druckste ich kleinlaut.
"Ich bin in der 1a_2", fügte ich noch hinzu. Meine Stimme zitterte.
Die Frau hob herausfordernd eine Augenbraue.
"Nun, Frau Hallstedter, Sie sind zu spät!"
Ich strich mir eine Haarlocke hinters Ohr.
"Entschuldigen Sie. Das wird nicht wieder vorkommen. Es gab ein Missverständnis am Empfang", brachte ich heraus. Mein Herz pochte wie verrückt, denn ich fürchtete schon, gleich wieder den Heimweg antreten zu müssen.
"Soso, ein Missverständnis. Na gut, ich drücke noch einmal ein Auge zu, da heute Ihr erster Tag ist. Suchen Sie sich bitte einen freien Platz, damit wir dann endlich anfangen können." Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. In der zweiten Reihe fand ich einen freien Stuhl. Ich entschuldigte mich bei allen, die wegen mir aufstehen mussten, damit ich durchkam und schob mich erleichtert auf den Platz.
"Mein Name ist Helena Ahrens und ich bin die Direktorin dieser Schule. Ich heiße Sie alle ganz herzlich Willkommen an unserer Impresa Fremdsprachen –und Dolmetscherschule hier in Hamburg! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise!
Welcome, Bienvenue, Bienvenidos, Benvenuto, Huānyíng guānglín, Bem vindo und Добро пожаловать!", begann die Frau zu sprechen.
"Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Chinesisch, Portugiesisch und Russisch sind alles Fremdsprachen, die Sie hier erlernen können, beziehungsweise, in denen Sie hier ausgebildet werden, um später im Beruf damit zu arbeiten. Das ist es, was unsere Schule auszeichnet. Internationalität! Aber darüber erfahren Sie später mehr. Ich werde Ihnen nun etwas zum heutigen Ablauf erzählen:
Die Einführung dauert in etwa eine Stunde. Um 12.30 Uhr gibt es für Sie alle das erste Mittagessen in unserer Kantine. Natürlich ist es kein Muss, in der Schulkantine mitzuessen, viele unserer Schüler, die schon länger hier sind, gehen in der Mittagspause oder in den Freistunden in die nahegelegene Innenstadt und essen dort etwas. Das können Sie frei entscheiden.
Zurück zum Ablauf:
Nach dem Mittagessen bekommen Sie Ihre Koffer zurück und werden sich im Wohnheim ein Zimmer aussuchen. Das wird um 13.30 Uhr stattfinden. Es gibt überwiegend Zweierzimmer, aber auch ein paar Einzelzimmer. Dann haben Sie erstmal ein wenig Zeit, um auszupacken und anzukommen. Heute findet noch kein Unterricht statt – erst ab morgen – aber um 16 Uhr erwarte ich Sie alle wieder hier. Dann bekommen Sie Ihren Stundenplan ausgehändigt und eine Führung durch die Schule, damit auch jeder von Ihnen morgen sein Klassenzimmer findet. Danach haben Sie den restlichen Tag zu Ihrer freien Verfügung. Morgen beginnt der Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler um Punkt acht Uhr."
Das Wort "Punkt" betonte sie extra. Bildete ich es mir ein, oder blickte sie bei diesem Satz ausgerechnet in meine Richtung?
"Nun erfahren Sie von mir noch etwas über die Entstehung und Gründung unserer Schule. Sie wurde im Jahre 1976 von Professor Dr. Marco Impresa-Fleischhauer und seinem Sohn Professor Tommaso Impresa-Fleischhauer gegründet. Professor Dr. Marco Impresa-Fleischhauer erwarb 1966 in Italien – seinem Heimatland – seinen Doktortitel in Sprachwissenschaften und ist der Liebe wegen nach Deutschland ausgewandert."
Die Direktorin sprach noch weiter über die Entstehungsgeschichte, jedoch hörte ich nicht mehr zu. Zum ersten Mal nahm ich meine Umgebung richtig wahr.
Der Saal, in dem ich mich befand, war groß und eindrucksvoll. Der Boden war aus hellem Marmor und die Wände waren in Weiß gehalten. Dadurch wirkte der Raum insgesamt sehr hell und freundlich. Das Rednerpult, hinter welchem die Direktorin mit Inbrunst sprach, hatte einen warmen Nussbaumton. Ich richtete meinen Blick nach oben. Dort über unseren Köpfen hing ein imposanter Kronleuchter. Rechts und links von mir saßen Schüler, die alle aus demselben Grund hier waren wie ich.
Einige hörten Frau Ahrens aufmerksam zu, andere sahen sich ebenfalls um oder unterhielten sich leise miteinander. Im Sitzblock gegenüber erblickte ich ein Mädchen, das mir ein aufmunterndes Lächeln zuwarf. Ich lächelte freundlich zurück. Sie sah mich noch einen kurzen Moment an und richtete dann ihren Blick wieder auf die Direktorin. Ich tat es ihr gleich.
Die Frau, die hinter dem Podium stand, war schätzungsweise um die 50 Jahre alt und ziemlich groß gewachsen. So, wie sie dastand – aufrecht und die Hände lässig zu beiden Seiten des Pultes – strahlte sie sehr viel Selbstsicherheit aus. Der untere Teil ihres Körpers wurde von dem Podium verdeckt, aber ich konnte sehen, dass sie einen eleganten, dunkelblauen Blazer trug, den silberne Pailletten am Revers und an den Ärmeln zierten. Ihre Haare waren dunkelbraun und zu einem strengen Dutt frisiert und auf ihrer Nase saß eine schwarze Hornbrille, durch die sie noch selbstbewusster wirkte. Ich konnte mir vorstellen, dass diese Frau sehr streng, aber dennoch fair war. Hoffentlich würde ich gut mit ihr klarkommen.
Nachdem ich mit der Begutachtung der Direktorin fertig war, entdeckte ich an der Wand hinter ihr eine große Uhr. Sie zeigte 12.01 Uhr. Mir fiel auf, dass viele Schüler mittlerweile auf die Uhr blickten, aus dem Fenster sahen oder anfingen, auf ihren Stühlen herumzurutschen. Auch mir wurde es allmählich zu lange, über die Geschichte der Schule informiert zu werden. Meine Gedanken schweiften ab und landeten bei dem Jungen, mit dem ich vorhin zusammengestoßen war.
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