Jetzt musste ich über meine Tollpatschigkeit schmunzeln. Und an seine wunderschönen blauen Augen denken, die direkt in meine sahen, als er mich fragte, ob es mir gut gehe. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, welches gleich darauf von meiner altbekannten Übelkeit zunichte gemacht wurde.
Schlag ihn dir aus dem Kopf, du könntest sowieso nicht mit ihm zusammen sein, da du dieses nervige Problem hast und außerdem hat er schon eine Freundin!, ermahnte ich mich selbst.
Applaus donnerte durch den Saal und riss mich jäh aus meinen Gedanken. Die Rede war zu Ende, alle Schüler standen von ihren Plätzen auf und eilten zum Ausgang. Auch ich setzte mich in Bewegung. Jedoch wusste ich gar nicht, wo sich die Mensa befand. Allerdings hatte ich sowieso keinen Appetit mehr, da mir schon wieder schlecht war.
Ich fragte trotzdem ein Mädchen mit langen dunklen Haaren, ob sie wüsste, wo die Schulkantine sei. Sie antwortete, dass Frau Ahrens das doch gerade gesagt hatte, am Ende ihrer Rede. Das hatte ich gar nicht mitbekommen, weil ich so vertieft in meine Gedanken war. Das Mädchen gab mir aber dennoch die gewünschte Information.
Die Schulkantine befand sich im Erdgeschoss, rechts neben der breiten Holztreppe, die in die oberen Geschosse führte. Ich trat zusammen mit einer Traube von anderen Schülern durch die Tür hindurch und sogleich schlug mir ein starker Geruch nach frittierten Pommes Frites entgegen. Die Kantine war – ebenso wie der Saal, in dem die Einführung stattgefunden hatte – eher in hellen Tönen gehalten. Einzig eine Wand war in demselben Orange gestrichen, wie die Außenfassade des Gebäudes. Vor dieser Wand waren Sitzgruppen angeordnet, an denen die Schüler Platz nehmen konnten. Gegenüber befand sich eine lange Theke, an der verschiedene Gerichte ausgegeben wurden.
Zielstrebig steuerte ich nur die Salatbar an und setzte mich an einen freien Platz am Fenster. Lustlos fing ich an in meinem Salat herumzustochern. Ich war frustriert darüber, dass mir meine Übelkeit, noch bevor der Unterricht überhaupt angefangen hatte, schon wieder in die Quere kam. Aber ich konnte es nicht leugnen, der Junge von vorhin gefiel mir ausgesprochen gut! Jedoch war es aussichtslos, mit ihm zusammen zu kommen…
"Hi, du bist Emma, richtig?", wurde ich plötzlich angesprochen. Ich sah auf. Mir gegenüber saß ein Mädchen. Genauer gesagt war es das Mädchen, das ich zuvor nach der Mensa gefragt hatte. Ich musterte sie genauer. Sie hatte fast schwarzes Haar, das in sanften Wellen über ihren Rücken fiel und trug ein gelb-pink geblümtes Spaghettiträger-Top mit tiefem Ausschnitt, welches sie bei ihrer Oberweite auch locker tragen konnte. Sie war sehr hübsch. Ich räusperte mich und erwiderte:
"Ja genau. Und du bist?"
Sie hielt mir ihre Hand hin. Ich ergriff sie.
"Lucía Flores", stellte sie sich vor.
"Hey, dein Name klingt spanisch! Wo kommst du denn her?", wollte ich wissen. Meine schlechte Laune von eben rückte in den Hintergrund.
Ich erntete ein Grinsen.
"Sí, ich bin Spanierin, aber in Deutschland geboren. Ich komme aus Hannover. Meine Eltern sind auch Spanier und kommen ursprünglich aus einer kleinen Stadt nahe Sevilla. Sie sind nach Deutschland ausgewandert, weil dort die Arbeitssituation besser ist als in Spanien." Ein klein wenig sprach sie mit spanischem Akzent, was aber sehr schön klang.
"Achso, aber kennst du trotzdem deine Heimat in Spanien? Und wurdest du dann zweisprachig erzogen?"
Auf einmal war ich ganz euphorisch, mehr über Lucía zu erfahren. So war das immer mit mir. Sobald es um Fremdsprachen ging, war ich wie in einer anderen Welt!
Sie nickte.
"Ich war die Sommerferien über bei meiner Familie in Santiponce. Meine Großeltern wohnen dort immer noch in einem großen Haus, das genügend Platz für die ganze Familie bietet. Sogar mein Bruder und meine zwei Schwestern mit Familie und Kindern sind gekommen und wir haben stundenlang gegessen und Ausflüge unternommen. Bei uns ist es immer sehr lustig und laut." Sie lächelte versonnen. Offenbar erinnerte sie sich an die schöne Zeit.
Ihre Augen, die die Farbe von dunkler Schokolade hatten, glänzten vor Freude. Dadurch kam ihr schwarzer Lidstrich noch mehr zur Geltung.
"Klingt toll!", sagte ich und meinte es auch so.
Das Mädchen strahlte.
"Und ja, ich bin zweisprachig aufgewachsen", fügte sie hinzu. "Meine Eltern haben von Anfang an viel Wert darauf gelegt, dass ich meine Heimat und die Traditionen – eben auch die Sprache – kennenlerne und beibehalte, auch wenn ich in Deutschland geboren bin."
Lucía legte den Kopf schief und sah mich an.
"Und wo kommst du her?"
"Ich komme aus Ostereistedt – einem kleinen Dorf, das ungefähr 90 Kilometer von Hamburg weg ist", antwortete ich.
"Und du interessierst dich offensichtlich für Spanisch!", schlussfolgerte sie.
"Ja, total! Ich liebe Sprachen! Naja, deswegen bin ich ja auch hier."
Sie nickte.
"A mí también!", sagte sie, was "ich auch" bedeutete. Wir lachten beide.
Die Schulklingel ertönte mit einem lauten "Ding Dong" und läutete das Ende der Pause ein. "Wir müssen unsere Koffer holen. Vorne am Empfang", bemerkte Lucía.
"Juhu, bei der unfreundlichsten Schnepfe auf der ganzen Welt!", entgegnete ich theatralisch und verdrehte die Augen.
Fragend sah mich meine neue Freundin an. Ich winkte ab.
"Erzähl ich dir später!"
Wir sprangen auf, brachten unsere Tabletts zum Essenswagen und eilten aus der Cafeteria.
Leon
Ich saß in einem pinken Ledersessel und langweilte mich. Victoria war im Nebenraum und quatschte mit der Nageldesignerin Sonya über die letzte Modenschau, während diese ihr falsche Fingernägel in Rosé verpasste. Es war mir einfach nicht klar, wieso sie diese langen Krallen brauchte. Ich hatte nichts gegen lackierte Nägel, aber mussten es immer diese Künstlichen sein?
Obwohl ich Sonya, die immer viel zu viel Parfüm auftrug, nicht ausstehen konnte, musste ich zugeben, dass sie eine Koryphäe auf ihrem Gebiet des Nageldesigns war. Die Kundinnen standen Schlange bei ihr. Wie auch jetzt. Ich war umgeben von lauter Frauen, die auf ihren Termin warteten. Da ich der einzige Mann in dem Zimmer war, kam ich mir ziemlich fehl am Platz vor. Aber Victoria musste mich ja unbedingt überreden, mitzukommen. Und ich hatte mal wieder ihr zuliebe ja gesagt.
Ich wusste nicht, wie ich die Wartezeit verbringen sollte – mein Handy war leer und im Wartezimmer lagen nur Frauenzeitschriften aus. Also begann ich wieder über die Anfangszeit unserer Beziehung nachzudenken:
Am nächsten Tag, nachdem Victoria in meinem Bett geschlafen hatte, frühstückten wir zusammen und suchten dann im Internet gemeinsam nach einem günstigen Hostel für sie. Den Kuss, welchen wir letzte Nacht geteilt hatten, erwähnte keiner von uns. Gar nicht lange und wir fanden eine geeignete Unterkunft mitten in der Innenstadt, zufällig recht nah an meiner Wohnung. Sie rief dort an und mietete sie erst einmal für eine Woche.
Nachdem sie aufgelegt hatte, sah sie mich an und sagte:
"Für eine Woche reicht mein Budget. Aber wenn ich länger bleibe und innerhalb einer Woche noch nichts als Model verdient habe, brauche ich einen Nebenjob! Ich habe leider nicht so viel Erspartes mitgenommen, weil ich dachte, dass ich auf jeden Fall den Job bekomme, bei dem ich dann als Model entdeckt werde und das große Geld verdiene." Victoria verdrehte genervt die Augen.
"Ich bin aber auch eine blöde Kuh so naiv zu sein…"
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ehrlich gesagt fand ich diese Einstellung auch naiv, aber das wollte ich ihr natürlich nicht sagen, um sie nicht zu kränken. Also ging ich zu ihr.
"Wenn du willst, könnte ich meinen Chef mal fragen, ob du bei uns in der Kaffeerösterei anfangen kannst."
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