»Und? Ist das etwa deine Überraschung?«
»Der Besitzer hat angerufen. Das Haus steht jetzt leer. Wir könnten es mieten.
Für die Wochenenden. Mal raus aus der Stadt. Kostet fast gar nichts.«
»Du willst mich in die Pampa verschleppen?«, kreische ich, kurz vorm Hyperventilieren. »Vergiss es! Wenn überhaupt Pampa, dann nach Argentinien. Was soll ich in der deutschen Provinz?«
Dort bin ich aufgewachsen. Vorstadt-Idylle mit Einfamilienhäusern in ordentlich gepflegten Gärten. Ligusterhecken. In Form gestutztes Grün. Blumen, die in einer Reihe strammstehen wie Zinnsoldaten. Bin ich abgehauen aus dieser kleinen geordneten Welt, um jetzt wieder dorthin zurückzukehren? Nicht mal aus Liebe zu einem Mann kann man das von mir erwarten.
»Du könntest einen eigenen Gemüsegarten haben«, meint er vorsichtig.
»Gemüsegarten? Ich will keinen Gemüsegarten. Vielen Dank. Falls Du es noch nicht gemerkt hast: Ich bin ein Stadtmensch! Durch und durch. Ich träume nicht von selbst gezüchteten Salatgurken. Ich brauche auch keine Kate im Country-Look zum Glücklichsein. Ich wohne sehr gerne im vierten Stock und kaufe mein Basilikum auf dem Wochenmarkt.«
Die Hartnäckigkeit, mit der er am Thema klebt, stachelt meinen Widerspruchsgeist erst recht an.
»Es ist wirklich wunderschön dort«, versucht er es erneut. »Durch die Lage im ehemaligen Zonenrandgebiet hat man den Landstrich sich selbst überlassen, und das ist der Natur sehr gut bekommen. Es gibt ganz viele seltene Tiere da.
Störche, Fischadler, Biber. Und dann der Blick über die Wiesen, diese Weite.«
»Wenn du Blick willst«, grolle ich, »dann setz’ dich auf unsere Dachterrasse.«
Ein Besichtigungstermin wird für den folgenden Samstagnachmittag organisiert. »Wir tun nichts, was du nicht willst«, beschwichtigt mich der Mann, während er sein Navi mit den Daten füttert, »nur mal anschauen«.
Seine Taktik ist aufgegangen. Nachdem wir die letzten Tage über nichts anderes geredet haben als über die Schönheit der Natur im Landkreis Lüchow-Dannenberg und den unerhörten Liebreiz von Polkefitz, ist meine Neugier nun so angestachelt, dass ich mir trotz aller bisherigen Widerstände selbst ein Bild davon machen will. Mit dieser Gegend verband ich bisher nur ein paar wenig erbauliche Schlagzeilen: Gorleben, Atommüll-Zwischenlager, Castor-Transporte, rebellische Bauern. Meine Sympathie gehörte zwar immer den Demonstranten, die unbeirrt seit Jahrzehnten jeden Transport mit ausgefuchsten Störmanövern begleiten, aber ich hatte nie den Wunsch, mir diesen Zipfel Deutschlands mal näher anzusehen.
Nun fiebere ich, ohne es zugeben zu wollen, der Reise ans Ende der Welt entgegen. Mit mühsam zu Schau getragenem Pokerface sage ich gönnerhaft:
»Ich will kein Spielverderber sein. Wenn wir schon einer strahlenden Zukunft entgegengehen, dann gemeinsam.«
Laut Navi sind es 122 Kilometer bis zu unserem Ziel. Die Fahrt soll anderthalb Stunden dauern. Wir rollen auf der Autobahn über meine geliebten Elbbrücken Richtung Lüneburg. Hinter uns die Großstadt, vor uns die Provinz. Dann runter auf die Bundesstraße. Es wird einspurig. Überholverbote und mit Blumen geschmückte Kreuze am Wegesrand erzählen von tollkühner Selbstüberschätzung. Oder ist es Todessehnsucht? Wir fahren über die Dörfer. Barendorf, Bavendorf, Dahlenburg. Kurz vor der Ortschaft Göhrde wird die Landschaft hügelig, dichter Wald reicht bis an die Straße. Gab’s hier im Unterholz nicht einen Doppelmord, der nie aufgeklärt wurde?
»Das ist aber sehr, sehr lange her.«
Der Mann an meiner Seite will jetzt auf gar keinen Fall mit mir über frei im Landkreis umherlaufende Mehrfachkiller reden und lenkt meine Aufmerksamkeit auf ein Schild, das eine respektable, sprungbereite Wildsau zeigt. Seitlich davon die fette Warnung: Keiler kommt!
Die Straße wird immer schmaler und führt schließlich als unbefestigter Weg ohne Gehsteig in ein Dorf, in dem die Häuser hufeisenförmig um einen Platz stehen. Sie scheinen den Besuchern ihre hübschen Fachwerkfassaden entgegenzustrecken, als wollten sie sich zur Begrüßung von ihrer Schokoladenseite zeigen. Gleichzeitig erinnert das Ensemble aber auch an die Verteidigungsbereitschaft einer Wagenburg im Wilden Westen. Oder an Klein Bonum, das wehrhafte gallische Widerstandsnest.
»Polkefitz ist ein Rundlingsdorf«, klärt mich der in Heimatkunde bewanderte Mann auf, »so was gibt es nur hier, im Wendland.«
Er zeigt auf eine Gartenpforte, neben der die Hausnummer 9 angebracht ist.
»Da müssen wir rein. »
Kaum habe ich die Klinke runtergedrückt, da rast etwas Großes, Blondes auf mich zu. Der Hunde-Experte an meiner Seite knurrt leise:
»Bleib einfach stehen und schau ihm nicht in die Augen.«
Wie bitte?
Das kläffende Ungeheuer erweckt nicht den Anschein, als würde es auf solche Tricks hereinfallen. Ich fühle, wie mir der Angstschweiß den Rücken hinunterläuft. Hunde können Angst riechen, das ist alles, was mir in der Sekunde einfällt. Dann sehe ich einen Mann und eine Frau, offenbar die Besitzer der Bestie, auf uns zusprinten.
»Du hast mich auf dem Gewissen«, kann ich gerade noch zischen, bevor ich zur Salzsäule erstarre. Morgen, denke ich, hat die Regional-Zeitung ihren Aufmacher: Hamburger Journalistin von Hofhund zerfleischt. Sekunden später springt mir der Blonde mit Karacho gegen das Brustbein und verewigt die Abdrücke seiner Dreckpratzen auf meinem Lieblingspulli.
»Pfui Leo!«, ruft eine aufgebrachte Frauenstimme und säuselt dann entschuldigend: »Wir sind noch dabei, ihm das abzugewöhnen.«
Leos Frauchen stellt sich als Helena vor und reicht uns die Hand, während ihr Mann Paul den Springteufel in die Sitzposition zwingt.
»Lange nicht gesehen«, sagt der zum Leadsänger aus der Stadt. Und zu mir:
»Schön, dass ihr da seid.«
Mir zittern die Knie. Aber die erste Lektion sitzt: No Kaschmir, wenn du aufs Land fährst.
Helena inspiziert den Schaden.
»Wir sind versichert gegen so was«, sagt sie und befühlt mit dem Zeigefinger das kleine Loch, das eine spitze Kralle des Ungeheuers in die Wolle gerissen hat, »aber wenn du mir den Pulli hier lässt, kann ich ihn dir auch kunststopfen. Der wird wieder wie neu.«
Ich nicke geistesabwesend. Ich lebe noch. Das Loch ist mir im Augenblick völlig egal.
»Leo ist ein Hovawart«, klärt uns Paul auf, »die waren im Mittelalter dazu da, in Eigenregie die Höfe zu bewachen.«
Der Mann an meiner Seite nickt und meint fachkundig:
»Nicht ganz einfach, die Rasse. Sehr revierbewusst und schwer zu erziehen.«
Paul grinst.
»Kennst dich wohl aus mit den Vierbeinern, was?«
Der Hofherr ist ein kräftiger Mann mit wilder, weißer Lockenmähne. Zeus, denke ich, als ich mich von dem Begrüßungsschock erholt habe. Hätte ich die Rolle des allmächtigen Göttervaters zu vergeben, wäre Paul die perfekte Besetzung. Seine Frau, schmal und zartgliedrig, wirkt neben ihm zerbrechlich wie ein Porzellanpüppchen. Eine optische Täuschung, wie sich später herausstellen wird. Beide schätze ich auf Mitte 60.
»Hattet ihr nicht zwei Töchter?«, fragt der Mann und schaut sich um.
Paul grinst.
»Die haben wir immer noch. Die eine lebt in Kiel mit Ehemann und zwei Kindern, die andere studiert freie Malerei in Berlin. Als ihr damals hier Musik gemacht habt, waren die zwei noch Teenies. Sie sind nachts heimlich bei euch ums Haus geschlichen und haben ein bisschen gekiebitzt, die wollten hören, was für Mucke ihr macht.«
»Was? Wir hatten Publikum? Und haben nix davon gemerkt?«
Dem Mann an meiner Seite ist die Sache ein ganz klein wenig peinlich.
»Vor allem war’s schön laut«, brummt Paul. »Da hatte das ganze Dorf was davon. Bauer Plate, der wohnt zwei Höfe weiter, hat mich sogar mal gefragt, ob man euch nicht fürs nächste Dorffest anheuern könnte. »Cocaine« hat ihm besonders gut gefallen. Aber dann seid ihr leider nie mehr hier aufgetaucht.«
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