Mit anderen Worten, die Getränkeindustrie wandte sich mit einer gewieften, mehrgleisigen Strategie gegen die Verabschiedung von Flaschenverordnungen. Sie bekämpfte sie durch Lobbyarbeit bei der Gesetzgebung und durch Werbekampagnen, die sich an die Wähler richteten und solche Gesetze als kostspielig für die Verbraucher und schlecht für die Geschäftswelt darstellten.
Durch die Werbekampagnen tat die Industrie ihr Bestes, um sicherzustellen, dass die Flaschenverordnungen in den Bundesstaaten, in denen sie durchgesetzt wurden, zerschlagen wurden oder auf marginale Beliebtheit, wenn nicht gar Ablehnung, stießen. Das alles genügte, um jeden Versuch einer nationalen Flaschenverordnung im Sande verlaufen zu lassen, wie sie der Politiker der Demokratischen Partei, Edward Markey aus Massachusetts, 2007 und 2009 im US-Repräsentantenhaus) vorgeschlagen hatte. Aber es gab noch eine weitere kritische Aufgabe – die Industrie musste den Enthusiasmus der »Basis« dämpfen, d.h. der Umweltschützer, die handeln wollten. In der Woche des allerersten internationalen Tags der Erde, im April 1970, kippten Umweltaktivisten einen riesigen Haufen Einwegflaschen vor den Coca-Cola-Hauptsitz in Atlanta, Georgia, um das Unternehmen unter Druck zu setzen, eine Flaschenverordnung zu unterstützen.15 Die Getränkeindustrie wusste, dass es schwierig sein würde, diese Leute und ihre wachsende Zahl von Anhängern davon zu überzeugen, dass eine Flaschenverordnung keine gute Sache für die Umwelt wäre. Aber sie wollten sie davon überzeugen, dass ein Gesetz nicht notwendig oder nicht wirksam wäre. Da kam auch wieder der weinende Indianer ins Spiel.
Lassen wir die Bilder der US-amerikanischen Ureinwohner vorerst beiseite und betrachten wir die grundlegendere Botschaft der Kampagne mit dem weinenden Indianer: Diese Flaschen und Dosen, die unsere Landschaft verunreinigt haben – sie waren das Ergebnis unseres schlechten persönlichen Verhaltens. Das ist eine bequeme Botschaft, wenn sie eine Branche sind, deren Praktiken massive Metall- und Plastikverschmutzung verursachen, und die versucht, gegen Vorschriften anzukämpfen, die darauf abzielen, dass Sie diesen Abfall verpacken und verarbeiten müssen.
Geben Sie mal in eine Suchmaschine »Coke« und »Madison Avenue« ein. Dann werden Sie sehen, dass zu dem Konsortium US-amerikanischer Unternehmen hinter der Kampagne »Haltet Amerika schön« die Unternehmen Coca-Cola, Pepsi, Anheuser-Busch und der Tabakgigant Philip Morris gehören. Diese Kampagne arbeitete mit dem Ad Council zusammen, einer gemeinnützigen Organisation, die im Auftrag verschiedener Sponsoren, darunter auch Umweltgruppen, public service announcements (Werbespots zur Information der Öffentlichkeit) produziert und fördert. 1971 engagierten sie den New Yorker Werberiesen Marsteller, um die »Weinender-Indianer«-Werbekampagne zu erschaffen. Ihre PR-Abteilung ist Burson-Marsteller, an die Sie sich aufgrund meiner Ausführungen über Flammschutzmittel bei Tabakprodukten erinnern werden.
Umweltgruppen wie der Sierra Club und die Audubon Society waren anfangs Partner der Kampagne, da sie glaubten, dass sie ein wirksames Mittel zur Sensibilisierung für das Abfallthema sei. Aber schließlich distanzierten sie sich davon, als ihnen bewusst wurde, dass sie hereingelegt worden waren. Das wurde ihnen klar, nachdem sie durchschaut hatten, dass der »weinende Indianer« in Wirklichkeit ein PR-Täuschungsmanöver war, das von den Lobbygruppen der Getränkeindustrie ausgeheckt worden war.
Diese Kampagne – Teil mehrgleisiger Bemühungen, die Flaschenverordnung zu stoppen – hatte ihr Hauptziel erreicht. Wie wir wissen, hat nur eine begrenzte Anzahl von Staaten, in denen die Demokraten regieren, solche Verordnungen verabschiedet. Eine bundesweite Flaschenverordnung ist auch Jahrzehnte später nicht in Sicht. In der Zwischenzeit hat die wachsende Menge an weggeworfenen Plastikflaschen zu einer weiteren großen Umweltkrise unserer Zeit geführt – der globalen Plastikverschmutzung. Es geht nicht mehr alleine um die Vermüllung der Landschaft: Heute ist die Plastikverschmutzung so massiv, dass sie im Marianengraben, einem Tiefseegraben im Pazifischen Ozean, in einer Tiefe von elftausend Metern unter Wasser festgestellt wurde. Und es findet sich auch schon etwas in der Luft: Die Computerzeitschrift Wired veröffentlichte im Juni 2020 einen Artikel, in dem verkündet wurde: »Plastic Rain Is the New Acid Rain.« (Plastikregen ist der neue saure Regen) Wired zitierte Forschungsergebnisse, wonach jedes Jahr viele Tonnen Mikroplastik in Wildnisgebiete fallen.16
Ironischerweise sollte der Ad Council im Jahr 2006 eine weitere Werbekampagne durchführen, über die Verschmutzung der Ozeane mit Plastik. Mit der Titelfigur aus Disney‘s Die kleine Meerjungfrau wurde die Botschaft vermittelt, wie der Einzelne handeln kann, indem er den Müll richtig entsorgt. Die Rolle der Getränkeindustrie bei der Umweltverschmutzung durch Kunststoffe wurde nicht erwähnt. Umweltorganisationen – wie der Environmental Defense Fund – waren Co-Sponsoren und ließen sich erneut täuschen.
Wenn ich über die wahre Geschichte hinter dem weinenden Indianer nachdenke, fällt es mir schwer, mich nicht persönlich verraten zu fühlen, als ob die Unschuld unserer Jugend eine Illusion war, als ob ich – und jeder andere meiner Generation – von einem falschen Propheten in die Irre geführt wurde, aus dem Motiv des Unternehmensgewinns.
Was das weitere Vermächtnis des weinenden Indianers anbelangt, so bot Finis Dunaway diese Einschätzung an:
»Die Antwort auf die Umweltverschmutzung, wie Keep America Beautiful sie formulieren würde, hatte nichts mit Macht, Politik oder Produktionsentscheidungen zu tun. Es ging einfach darum, wie der Einzelne in seinem täglichen Leben handelte. Seit dem ersten Earth Day haben die Mainstreammedien große systemische Probleme immer wieder zu Fragen der individuellen Verantwortung degradiert. Allzu oft haben einzelne Aktionen wie Recycling und grüner Konsum den Amerikanern eine therapeutische Dosis ökologischer Hoffnung gegeben, die unsere zugrundeliegenden Probleme nicht lösen.«17
Damit sind wir wieder beim Thema Klimawandel angelangt.
Was ist zu tun?
Die zwei Zitate, die dieses Kapitel einleiten, beschreiben die Dualität der Hebelarme des Handelns in einer funktionierenden Demokratie. Fortschritt erfordert individuelles Handeln, denn was ist schließlich ein Kollektiv, wenn nicht eine Gruppe von Individuen? Das Richtige zu tun, setzt ein Beispiel, dem andere folgen können, es schafft ein günstigeres Umfeld für Veränderungen. Aber wir brauchen auch einen Systemwandel, der kollektives Handeln erfordert, das darauf abzielt, Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben, die in der Lage sind, Entscheidungen über gesellschaftliche Prioritäten und staatliche Investitionen zu treffen.
Es gibt viele Veränderungen unseres Lebensstils, die gefördert werden sollten. Viele davon machen uns glücklicher und gesünder, sparen uns Geld und verringern unseren ökologischen Fußabdruck. Der Druck der Verbraucher auf der Nachfrageseite kann den Markt sicherlich beeinflussen. Deshalb werden Millennials, also die Generation der zwischen den frühen 1980er und den späten 1990er Jahren Geborenen, auch beschuldigt, mit ihren Kaufentscheidungen traditionelle Produkte und Dienstleistungen wie Festnetztelefone, Herrenanzüge und Fast-Food-Ketten zerstört zu haben.18 Aber die Wahlfreiheit der Verbraucher führt nicht zum Bau von Hochgeschwindigkeitszügen, zur Finanzierung von Forschung und Entwicklung im Bereich Erneuerbarer Energien oder zur Festsetzung einer CO 2-Steuer. Jede echte Lösung muss sowohl individuelles Handeln als auch systemische Veränderungen beinhalten.
Wir müssen uns vor Bestrebungen hüten, es so aussehen zu lassen, als ob Ersteres eine gangbare Alternative zu Letzterem wäre. Studien deuten darauf hin, dass eine alleinige Konzentration auf freiwillige Maßnahmen die Unterstützung der Regierungspolitik, die darauf abzielt, die Treibhausgasemittenten zur Rechenschaft zu ziehen, untergraben könnte.19 Dafür gibt es einen filigranen Mittelweg, den wir ausfindig machen müssen. Ein Weg, der zu persönlicher Verantwortung und individuellem Handeln ermutigt und gleichzeitig weiterhin alle Hebel der Demokratie einsetzt, einschließlich des Wahlsystems, um Druck auf die Politiker auszuüben, damit sie eine klimafreundliche Regierungspolitik unterstützen.
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