KPM-Porzellanschale
Hat man Kinder zu beschenken, ist der Berliner Omnibus sicherlich immer noch eine gute Idee. Was aber bringt man jungen Leuten mit, die heute doch alles schon haben? Einen Berliner Stoffbären? Das Brandenburger Tor in der Schneekugel? Ein Brösel von der Berliner Mauer, in Gold gefasst?
KPM-Quartier
Entscheiden Sie sich anders. Fahren Sie zum Charlottenburger Tor an der Straße des 17. Juni, in der Nachbarschaft befindet sich KPM, die Königliche Porzellan-Manufaktur. Edle Sachen gibt es hier zu kaufen, den Schinkelkorb zum Beispiel, farbig dekoriert schon für schlappe 15.000 Euro zu haben. Aber natürlich gibt es auch günstigere Porzellankunst, am witzigsten und originellsten die Currywurstschale. Über dieses Mitbringsel freut sich jeder Liebhaber der gehobenen Straßengastronomie. Gekonnt wurden die gewellten Ränder der Pappschachtel von den KPM-Designern nachgeformt, jede Currywurst wird vor Vergnügen platzen, in eine solch edle Schale gelegt zu werden. Natürlich könnte ein Purist einwenden, eine echte Currywurst gehöre in echte Pappe. Porzellan in Wellen zu legen, sei zudem ein Verstoß gegen jedes Formprinzip, die Wellen gäben nur gepappt einen Sinn, weil ungewellte Pappe nun mal nicht stabil sei, Porzellan hingegen schon. Diesen Einwand finde ich kleinlich, besonders zum Ende der Mahlzeit hin. Schon als Kinder habe ich es geliebt, mit den Fingern über die Wellen zu fahren, um auch noch die letzten Reste der von Hertha Heuwer am Stuttgarter Platz in Charlottenburg erfundenen Soße genießen zu können. Finger aber, die über gewelltes Porzellan streichen, wollen gar nicht mehr damit aufhören. Man schließt unwillkürlich die Augen, ein kontemplatives Lächeln umspielt die Lippen und man fühlt sich in den siebten Currywursthimmel gehoben. Einfach mal ausprobieren!
Wurstbude am Stutti
Erinnerungstafel Hertha Heuwer am Stuttgarter Platz
KPM-Fabrik
Wegelystraße 1
10623 Berlin
Die Stalingradmadonna
11 Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (Charlottenburg)
Ostfront. Stalingrad, eisiger Winter, Weihnachten 1942. Die Rote Armee hat die Deutschen eingekesselt, doch noch ergeben sie sich nicht. Im Lazarett steht Dr. Reuber, unaufhörlich werden neue Verletzte in die Zelte getragen, stöhnen und schreien. Dr. Reuber operiert zwölf Stunden am Tag, holt Kugeln und Granatsplitter aus den zerfetzten Körpern, stillt blutende Wunden, amputiert Arme und Beine, versorgt schwere Kopfverletzungen. Vielen ist nicht mehr zu helfen, die Verluste sind ungeheuer.
Stalingradmadonna
Kurt Reuber stammt aus Kassel, wo er am 26. Mai 1906 geboren wurde, als Kind einer pietistischen Familie. Prägend wurde für den Heranwachsenden eine Begegnung mit Albert Schweitzer, der ihm zum Freund, zum Vorbild wurde. Nach dem Abitur entschloss sich Reuber, Theologie zu studieren, 1930 wurde er Vikar in Loshausen, dann in Marburg. Vielseitig interessiert und seit Kindheitstagen gerne zeichnend, besuchte er die nahe Willingshäuser Malerkolonie. Im Jahr 1933 promoviert er an der Marburger Universität zum Doktor der Theologie.
Die Theologie ist ihm nicht genug. Als er im April 1933 Pfarrer in Wichmannshausen bei Eschwege wird, nimmt Kurt Reuber zugleich das Medizinstudium in Göttingen auf. Kein Zufall sicherlich, dass er sich 1938 auch für seine medizinische Promotionsarbeit ein besonderes Thema wählt, Die Ethik des heilenden Standes in den Ordnungen des hessischen Medizinalwesens von 1564 bis 1830.
Dann bricht der Krieg aus. Im November 1942 wird Reuber nach Stalingrad geschickt, wo Ärzte dringend benötigt werden. Kälte und Hunger herrschen bei der Truppe, tief hat man sich in die harte Erde eingegraben, sucht Schutz vor dem ständigen Beschuss, ohne Unterlass steht Kurt Reuber am improvisierten Operationstisch, die Stimmung in der Truppe ist hoffungslos.
Das Weihnachtsfest ist gekommen. Doch wie soll man Weihnachten feiern, hier im Kessel von Stalingrad? Wo nichts mehr durchkommt von der Heimat, keine Briefe, keine Pakete? Dennoch, Kurt Reuber beschließt, die Heilige Nacht zu feiern. Trotz allem, wegen dem allen. Er betritt den Bunker, einen schmucklosen, betonkalten Raum. Kurt Reuber schüttelt den Kopf. So geht das nicht. Ein religiöses Zentrum muss geschaffen werden, etwas, was die Herzen der Männer erreicht und tröstet. Wenn er wenigsten seine Malsachen hätte! Dann würde er ein Ölbild malen, ein Weihnachtsbild. Aber Ölfarben und Leinwand hier im Kessel von Stalingrad? Unmöglich!
Und selbst wenn er was zum Malen findet, was soll er denn malen, was soll das Bild zeigen? Den Klassiker? Den Stall mit der Krippe, die heilige Familie, Ochs und Esel, die Hirten, die Engel, die Könige? Was ist denn das Eigentliche der Weihnachtsbotschaft, worauf kommt es an? All die Schreie der verletzten Kameraden klingen dem Arzt im Ohr. Wonach rufen sie, was flehen sie herbei, wenn sie im Sterben liegen? Die meisten rufen nur nach einem einzigen Menschen, rufen nach der Mutter, ihrer Mutter. Die Mutter soll da sein, soll sie in den Arm nehmen, soll trösten. So wie damals als Kind, wenn man Kummer hatte und Schmerzen litt, wenn man nicht mehr weiter wusste. Die Mutter soll da sein. Dann wird alles wieder gut, dann wird alles, alles wieder gut.
Kurt Reuber beginnt zu improvisieren. Als Papier nimmt er eine Landkarte von Russland, als Stift ein Stück Kohle. Damit beginnt er zu zeichnen, zeichnet ein unendlich zartes, ein geschlossenes Bild, zeichnet nichts anderes als Maria mit dem Kind. Maria hat sich hingesetzt, hält in ihren Armen ihr neugeborenes Kind, hält es eng, hält es warm. Die Gesichter sind einander zugewandt. Um sich und das Kind hat Maria einen Mantel geschlungen, einen Schutzmantel. Ein Bild des Friedens und der Innigkeit. So dünn der Stoff des Mantels auch sein mag, so schützt er doch, hält alles ab, was droht und ängstigt: die Nacht, den Schrecken, den Hass, den Tod. Innerhalb dieses Mantels gibt es nur drei Dinge: Licht, Leben und Liebe. Das ist Weihnachten, das ist die Weihnachtsbotschaft. Kurt Reuber schreibt die Worte neben die Zeichnung: Licht, Leben, Liebe. Dann stellt er das Bild auf und feiert mit den anderen die Heilige Nacht. Für seine Frau notiert er über dem Bild: »Schau in dem Kind das Erstgeborene einer neuen Menschheit an, das unter Schmerzen geboren, alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt.«
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
1943 gerät Kurt Reuber in russische Kriegsgefangenschaft und wird in ein Lager transportiert. Dort arbeitet er weiter als Arzt, versorgt die mitgefangenen Kameraden. Der Hunger schwächt die Gefangenen, die hygienischen Verhältisse sind desolat. Seuchen brechen aus, es fehlt an allem, an Nahrung, an sauberem Wasser, an Medikamenten. Kurt Reuber steckt sich an, wird selbst zum Patienten, bekommt hohes Fieber. Flecktyphus. Es geht über seine Kräfte, am 20. Januar 1943 stirbt Kurt Reuber im Lager.
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