Nachschlag Berlin
JOHANNES J. ARENS
Nachschlag Berlin
Von der Kultur des Essens und Trinkens in der Hauptstadt
Impressum
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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ISBN (eBook, epub): 978-3-940621-56-6
Lektorat: Martina Lehnigk / Steffi Kühnel
Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout:
Stefan Berndt — www.fototypo.de
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Vorwort
Masse oder Klasse?
Die Kritik an der Berliner Ernährung
Interview: Arme Ritter und Spiegelei
Eisbein mit Sauerkraut und Erbspüree
Die Erfindung der Berliner Küche
Interview: Mehr als eine Bäckerei
Die proletarische Inszenierung
Kulinarische Rückgriffe auf die Arbeiterkultur
Interview: Blutwurstritter
Die Politik der Mahlzeit
Ernährung in Ost- und Westberlin
Interview: Schulspeisung
Bittere und süße Gedanken
Essen und Trinken als Heimat
Interview: Zubrot und Zukunft
Die gute alte Zeit
Die Versorgung aus dem Umland und die Inszenierung der Landwirtschaft
Interview: Mutter der Currywurst
Das größte Schnitzel Berlins
Notstand und Überfluss
Anmerkungen
Bildnachweis
Werbung für Schaumzuckerwaren auf der Grünen Woche
In einer globalisierten Gesellschaft ist ein Supermarkt ein Supermarkt, dachte ich, als ich im Sommer 2008 von Köln nach Berlin-Neukölln zog. Ich ging davon aus, dass sich Essen und Trinken in der Hauptstadt unwesentlich von dem unterscheiden würden, was ich bislang gewohnt war. Aber schon bald schlichen sich die ersten kleinen Mangelerscheinungen im Alltag ein, die mir die Macht der Gewohnheit auch über unsere Ernährung noch einmal eindrucksvoll vor Augen führten. Plötzlich wurde an heimwehgetönten Sommerabenden das Kölsch im Biersortiment des Spätkaufs unter meiner Wohnung zum unbedingten Faktor des Wohlergehens und CARE-Pakete bekamen im Rahmen der Versorgung mit rheinischem Schwarzbrot eine ganz neue Bedeutung. Doch gerade bei dieser Suche nach dem Bekannten entdeckte ich nach und nach das Unbekannte - lokale Besonderheiten abseits von Currywurst und Pfannkuchen sowie Einflüsse aus dem ostdeutschen Umland. Allem voran aber entdeckte ich eine ganz besondere Perspektive der Menschen auf das, was sie tagtäglich zu sich nehmen. Aus den Hamstertouren wurde schnell ein Buchprojekt: Ich befragte Freunde und Bekannte und ließ mir die Orte zeigen, an denen sie einkaufen, kochen und essen. Und auch wenn das Projekt mitunter erst einmal belächelt wurde, nach wenigen Minuten war der Ofen an, um im Küchenjargon zu sprechen, denn Ernährung ist ein gesellschaftliches Totalphänomen, dem sich keiner dauerhaft zu entziehen vermag. Herausgekommen ist kein Kochbuch, kein Restaurantführer und auch kein Spezialitätenlexikon. ,Nachschlag Berlin‘ ist eine Bestandsaufnahme der Esskultur der deutschen Hauptstadt rund 20 Jahre nach der Wiedervereinigung. In insgesamt neun Kapiteln habe ich schlaglichtartig untersucht, was das Ernährungssystem dieser Stadt ausmacht, wie viel davon in der Vergangenheit zu suchen ist und wie die Zukunft aussehen könnte. Diese Analysen anhand konkreter Beispiele und Beobachtungen werden ergänzt durch Interviews mit Personen, die mir als Produzenten, Verbraucher oder Beobachter ihre Sicht aufs Berliner Essen erläutert haben.
Denn das Verhältnis der Berliner und Berlinerinnen zu ihrer Ernährung ist, ganz vorsichtig formuliert, nicht immer unproblematisch. Auch wenn Berlin seit den 1980ern eine der Hochburgen der Ökobewegung ist – die Qualität ihrer Lebensmittel ist für viele Menschen nach wie vor zweitrangig. Auch das Nörgeln über die Berliner Küche hat Tradition – von den gesetzlichen Beschränkungen des Prunks bei Hochzeitsfeiern im 14. Jahrhundert über die scharfzüngigen Beobachtungen der Essgewohnheiten der Berliner Elite durch Theodor Fontane bis hin zur gegenwärtigen Restaurantkritik in den Stadtmagazinen.
Das 19. Jahrhundert spielt dabei eine besondere Rolle in der Ausdifferenzierung eines Berliner Küchensystems, wurden doch hier die Gerichte erfunden, die wir heute noch als ,gutbürgerlich‘ bezeichnen. Hier wurden die Weichen für eine repräsentative, bürgerliche Esskultur der Hauptstadt gestellt, wie sie immer noch auf den Speisekarten der ,Alt-Berliner‘ Restaurants zu finden ist.
Für die Berliner und Berlinerinnen selbst spielt eine andere Form der Inszenierung eine wichtige Rolle: die der Metropole als Hauptstadt des Proletariats. Diejenigen Imbissbuden, die als ,kultig‘ gelten, sind vielfach ziemlich ungemütliche Orte, die aber eines gemeinsam haben: Sie heben nicht nur die Wurst, sondern auch ihre Konsumenten auf den Präsentierteller. Der Verzehr einer Currywurst ist fester Bestandteil der Selbstinszenierung als Berliner.
Aber nicht alle untersuchten Phänomene sind so offensichtlich wie ,Curry ohne Darm‘. So ist die Teilung der Stadt in Ost und West im Ernährungssystem nur noch bei sehr genauer Betrachtung zu erkennen. Denn Esskultur reagiert nur träge auf Veränderungen, auch wenn manche von ihnen in geballter Form eintreten. So haben Migrationswellen seit dem 17. Jahrhundert immer wieder die Identität der Stadt geprägt. Neben den türkischen Einwanderern des 20. Jahrhunderts waren das vor allem die Hugenotten, die der Legende nach die Bulette, das Weißbier und das Hühnerragout nach Berlin gebracht haben sollen.
Aber wie sehen die Migranten die deutsche Küche? Von ihren Versuchen, zwischen zwei Kulturen zu kochen und zu essen, von der Heimat im Topf, erzählen die Mitarbeiterinnen des Stadtteilmütterprojekts in Gropiusstadt. Ihre Erfahrungen sind dabei fast deckungsgleich mit denen der Damengruppe der Berliner Landsmannschaft Ostpreußen, die vor mehr als 60 Jahren ihre Heimat verlassen mussten und einmal im Monat in Kreuzberg bei Kaffee und Kuchen gemeinsam ihre Erinnerungen wach halten.
Doch Berlin hat nicht nur durch die Einflüsse seiner neuen Bewohner eine lange Geschichte des kulturellen Imports, die Stadt ist darüber hinaus immer schon in hohem Maße von den landwirtschaftlichen Kapazitäten ihres Umlands abhängig gewesen. Beelitzer Spargel oder Obst von der Havelinsel Werder sind feste Größen im Jahreslauf der Stadt und die Ernte ist im Rahmen einer Inszenierung bäuerlicher Agrarwirtschaft als Event zur volksfestartigen Massenveranstaltung geworden.
Dass in einer Millionenstadt die Gegensätze auch in der Ernährung groß sind, versteht sich von selbst. Berlin ist eine Stadt der Extreme mit Polen wie einerseits den hochpreisigen Restaurants um den Gendarmenmarkt und andererseits der Berliner Tafel, die neben zahlreichen Sozialhilfeeinrichtungen auch rund 45 eigene Ausgabestellen mit Lebensmittelspenden für Bedürftige versorgt.
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