Der Bundespräsident wollte es am Ende des Jahres durchaus so sehen: „Wie viel wir doch miteinander bewegen können, das erleben wir gerade jetzt in der Krise. Aus dieser Erfahrung können wir Mut und Kraft schöpfen, auch um uns gegen andere Bedrohungen wie den Klimawandel oder gegen Hunger und Armut zu engagieren.“ 20Ob die Entbehrungsbereitschaft der Bevölkerung während der Corona-Krise tatsächlich Mut und Kraft gibt auch für den Kampf gegen den Klimawandel, wird sich jenseits der Textsorte Weihnachtsansprache und jenseits auch von Ostern 2021, bis wohin der zweite Lockdown gelten könnte, erst noch zeigen müssen. Wie eine Pandemie die Gesellschaft verändert, hängt auch davon ab, wie lange sie dauert. Insofern scheint jede Äußerung vor dem Ende zu früh zu kommen, erst recht jene Bücher, die schon im Herbst, also noch vor dem zweiten Lockdown, entweder eine Zeit voller Debatten und politischer Gestaltungslust prophezeiten oder Zweifel hegten, dass aus dieser Krise irgendetwas werden könnte. 21Aber Zukunft wird auch im Mutmaßen über sie gemacht. Jede öffentliche Äußerung ist ein performativer Akt, der zugleich ein bisschen das befördert, was er beschwört. Denn am Ende kommt es darauf an, welche Angebote parat liegen, wenn der Autopilot deaktiviert ist und die Frage nach alternativen Ideen entsteht. So kommt jeder schon vor ihrem Ende erschienene Text über die Pandemie, der nicht nur analysieren, sondern auch inspirieren will, zugleich zu früh und gerade zur rechten Zeit.
Die Frage, was von Corona bleibt, reicht für viele Texte, Podcasts und Talk-Shows. Setzt man niedriger an als beim Kommunismus oder gar Anthropozän, wird das Vermuten einfach. Bleiben wird sicher die Maske, die in asiatischen Kulturen längst zu den Anstandsregeln gehört, wenn man erkältet ist. Vielleicht auch die Zurückhaltung beim Umarmen. Auf jeden Fall die Auslagerung ins Digitale: Online-Shopping, Film-Streaming, E-Learning, Bildschirmmeetings und Home-Office, das freilich bald Remote-Work heißen wird, denn was am Computer geht, geht von überall, wo es Internet hat. Auch Urlaub wird nach Corona anders aussehen. Natürlich wird es eine Menge an Nachholreisen Richtung Süden geben, so wie es den Nachholkonsum geben wird. Aber wer im Sommer 2020 in einen Camper Van investiert hat (und die Preise waren da schon immens gestiegen), stellt nicht einfach wieder auf Fernreisen um – ganz zu schweigen von denen, die sich nach den zu erwartenden Insolvenzen 2021 ohnehin keine Fernreise mehr werden leisten können. Zudem: Wer sah, wie leicht man mit weniger auskommt, wird sich das gewiss noch eine Weile gefallen lassen.
Und sonst? Ändert sich auch die Gesellschaft? Grundsätzlich? Ja, aber wohl weniger in der Form wie der Bundespräsident sowie kapitalismus- und kulturkritische Philosophen und Soziologen es sich wünschen. Die Konturen der postpandemischen Zeit zeichnen sich durchaus schon ab. Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, steht wesentlich mehr zur Disposition, als man vermuten mag. Vorerst lässt sich schon einmal die These aufstellen, dass sich unsere Erinnerungskultur zumindest in Ansätzen ändern wird und künftig auch das enthält, was nach klassischen Maßstäben nicht als heldenhaft gilt. Corona wird es nicht ergehen wie der Spanischen Grippe. Anders als da wird dieser große vaterländische – wenn nicht internationale, europäische – Krieg gegen das Virus durchaus in das kollektive und kulturelle Gedächtnis eingehen und erinnert werden, sei es wenn man den Börsenwert der „Corona-Bonds“ abfragt oder wenn man vor den leuchtenden Kerzen einer Geburtstagstorte „Happy Birthday“ singt.
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