Gerade streckte er sich nach einer gründlichen Waschung des ganzen Körpers, die er seiner Nachbarin wegen möglichst leise durchzuführen sich bemüht hatte, im Vorgenuß des Schlafes auf seinem Kanapee, da glaubte er ein schwaches Klopfen an einer Türe zu hören. Man konnte nicht gleich feststellen, an welcher Tür es war, es konnte auch bloß ein zufälliges Geräusch sein. Es wiederholte sich auch nicht gleich und Karl schlief schon fast, als es wieder erfolgte. Aber nun war kein Zweifel mehr, daß es ein Klopfen war und von der Tür der Schreibmaschinistin herkam. Karl lief auf den Fußspitzen zur Tür hin und fragte so leise, daß es, wenn man trotz allem nebenan doch schlief, niemanden hätte wecken können: „Wünschen Sie etwas?“ Sofort und ebenso leise kam die Antwort: „Möchten Sie nicht die Tür öffnen? Der Schlüssel steckt auf Ihrer Seite.“ „Bitte“, sagte Karl, „ich muß mich nur zuerst anziehn.“ Es gab eine kleine Pause, dann hieß es: „Das ist nicht nötig. Machen Sie auf und legen Sie sich ins Bett, ich werde ein wenig warten.“ „Gut“, sagte Karl und führte es auch so aus, nur drehte er außerdem noch das elektrische Licht auf. „Ich liege schon“, sagte er dann etwas lauter. Da trat auch schon aus ihrem dunklen Zimmer die kleine Schreibmaschinistin, genau so angezogen wie unten im Bureau, sie hatte wohl die ganze Zeit über nicht daran gedacht schlafen zu gehn.
„Entschuldigen Sie vielmals“, sagte sie und stand ein wenig gebückt vor Karls Lager, „und verraten Sie mich bitte nicht. Ich will Sie auch nicht lange stören, ich weiß, daß Sie totmüde sind.“ „Es ist nicht so arg“, sagte Karl, „aber es wäre vielleicht doch besser gewesen, ich hätte mich angezogen.“ Er mußte ausgestreckt daliegen, um bis an den Hals zugedeckt sein zu können, denn er besaß kein Nachthemd. „Ich bleibe ja nur einen Augenblick“, sagte sie und griff nach einem Sessel, „kann ich mich zum Kanapee setzen?“ Karl nickte. Da setzte sie sich so eng zum Kanapee, daß Karl an die Mauer rücken mußte, um zu ihr aufschauen zu können. Sie hatte ein rundes gleichmäßiges Gesicht, nur die Stirn war ungewöhnlich hoch, aber das konnte auch vielleicht nur an der Frisur liegen, die ihr nicht recht paßte. Ihr Anzug war sehr rein und sorgfältig. In der linken Hand quetschte sie ein Taschentuch.
„Werden Sie lange hier bleiben?“ fragte sie. „Es ist noch nicht ganz bestimmt“, antwortete Karl, „aber ich denke, ich werde bleiben.“ „Das wäre nämlich sehr gut“, sagte sie und fuhr mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, „ich bin hier nämlich so allein.“ „Das wundert mich“, sagte Karl, „die Frau Oberköchin ist doch sehr freundlich zu Ihnen. Sie behandelt Sie gar nicht wie eine Angestellte. Ich dachte schon, Sie wären verwandt.“ „Oh nein“, sagte sie, „ich heiße Therese Berchtold, ich bin aus Pommern.“ Auch Karl stellte sich vor. Daraufhin sah sie ihn zum erstenmal voll an, als sei er ihr durch die Namensnennung ein wenig fremder geworden. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte sie: „Sie dürfen nicht glauben, daß ich undankbar bin. Ohne die Frau Oberköchin stünde es ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchen hier im Hotel und schon in großer Gefahr entlassen zu werden, denn ich konnte die schwere Arbeit nicht leisten. Man stellt hier sehr große Ansprüche. Vor einem Monat ist ein Küchenmädchen nur vor Überanstrengung ohnmächtig geworden und vierzehn Tage im Krankenhaus gelegen. Und ich bin nicht sehr stark, ich habe früher viel zu leiden gehabt und bin dadurch in der Entwicklung ein wenig zurückgeblieben, Sie würden wohl gar nicht sagen, daß ich schon achtzehn Jahre alt bin. Aber jetzt werde ich schon stärker.“ „Der Dienst hier muß wirklich sehr anstrengend sein“, sagte Karl. „Unten habe ich jetzt einen Liftjungen stehend schlafen gesehn.“ „Dabei haben es die Liftjungen noch am besten“, sagte sie, „die verdienen ihr schönes Geld an Trinkgeldern und müssen sich schließlich doch bei weitem nicht so plagen wie die Leute in der Küche. Aber da habe ich wirklich einmal Glück gehabt, die Frau Oberköchin hat einmal ein Mädchen gebraucht um die Servietten für ein Bankett herzurichten, hat zu uns Küchenmädchen heruntergeschickt, es gibt hier an fünfzig solcher Mädchen, ich war gerade bei der Hand und habe sie sehr zufriedengestellt, denn im Aufbauen der Servietten habe ich mich immer ausgekannt. Und so hat sie mich von da an in ihrer Nähe behalten und allmählich zu ihrer Sekretärin ausgebildet. Dabei habe ich sehr viel gelernt.“ „Gibt es denn da soviel zu schreiben?“ fragte Karl. „Ach sehr viel“, antwortete sie, „das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Sie haben doch gesehn, daß ich heute bis halb zwölf gearbeitet habe und heute ist kein besonderer Tag. Allerdings schreibe ich nicht immerfort, sondern habe auch viele Besorgungen in der Stadt zu machen.“ „Wie heißt denn die Stadt?“ fragte Karl. „Das wissen Sie nicht?“ sagte sie, „Ramses.“ „Ist es eine große Stadt?“ fragte Karl. „Sehr groß“, antwortete sie, „ich gehe nicht gern hin. Aber wollen Sie nicht wirklich schon schlafen?“ „Nein, nein“, sagte Karl, „ich weiß ja noch gar nicht, warum Sie hereingekommen sind.“ „Weil ich mit niemandem reden kann. Ich bin nicht wehleidig, aber wenn wirklich niemand für einen da ist, so ist man schon glücklich, schließlich von jemandem angehört zu werden. Ich habe Sie schon unten im Saal gesehn, ich kam gerade um die Frau Oberköchin zu holen, als sie Sie in die Speisekammern wegführte.“ „Das ist ein schrecklicher Saal“, sagte Karl. „Ich merke es schon gar nicht mehr“, antwortete sie. „Aber ich wollte nur sagen, daß ja die Frau Oberköchin so freundlich zu mir ist, wie es nur meine selige Mutter war. Aber es ist doch ein zu großer Unterschied in unserer Stellung, als daß ich frei mit ihr reden könnte. Unter den Küchenmädchen habe ich früher gute Freundinnen gehabt, aber die sind schon längst nicht mehr hier und die neuen Mädchen kenne ich kaum. Schließlich kommt es mir manchmal vor, daß mich meine jetzige Arbeit mehr anstrengt als die frühere, daß ich sie aber nicht einmal so gut verrichte, wie die und daß mich die Frau Oberköchin nur aus Mitleid in meiner Stellung hält. Schließlich muß man ja wirklich eine bessere Schulbildung gehabt haben, um Sekretärin zu werden. Es ist eine Sünde das zu sagen, aber oft und oft fürchte ich wahnsinnig zu werden. Um Gotteswillen“, sagte sie plötzlich viel schneller und griff flüchtig nach Karls Schulter, da er die Hände unter der Decke hielt, „Sie dürfen aber der Frau Oberköchin kein Wort davon sagen, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich ihr jetzt außer den Umständen die ich ihr durch meine Arbeit mache, auch noch Leid bereiten sollte, das wäre wirklich das Höchste.“ „Es ist selbstverständlich, daß ich ihr nichts sagen werde“, antwortete Karl. „Dann ist es gut“, sagte sie, „und bleiben Sie hier. Ich wäre froh wenn Sie hierblieben und wir könnten, wenn es Ihnen recht ist, zusammenhalten. Gleich wie ich Sie zum erstenmal gesehn habe, habe ich Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und trotzdem – denken Sie, so schlecht bin ich – habe ich auch Angst gehabt, die Frau Oberköchin könnte Sie an meiner Stelle zum Sekretär machen und mich entlassen. Erst wie ich da lange allein gesessen bin, während Sie unten im Bureau waren, habe ich mir die Sache so zurechtgelegt, daß es sogar sehr gut wäre, wenn Sie meine Arbeiten übernehmen würden, denn die würden Sie sicher besser verstehn. Wenn Sie die Besorgungen in der Stadt nicht machen wollten, könnte ich ja diese Arbeit behalten. Sonst aber wäre ich in der Küche gewiß viel nützlicher, besonders da ich auch schon etwas stärker geworden bin.“ „Die Sache ist schon geordnet“, sagte Karl, „ich werde Liftjunge und Sie bleiben Sekretärin. Wenn Sie aber der Frau Oberköchin nur die geringste Andeutung von Ihren Plänen machen, verrate ich auch das Übrige, was Sie mir heute gesagt haben, so leid es mir tun würde.“ Diese Tonart erregte Therese so sehr, daß sie sich beim Bett niederwarf und wimmernd das Gesicht ins Bettzeug drückte. „Ich verrate ja nichts“, sagte Karl, „aber Sie dürfen auch nichts sagen.“ Nun konnte er nicht mehr ganz unter seiner Decke versteckt bleiben, streichelte ein wenig ihren Arm, fand nichts Rechtes, was er ihr sagen könne und dachte nur, daß hier ein bitteres Leben sei. Endlich beruhigte sie sich wenigstens so weit, daß sie sich ihres Weinens schämte, sah Karl dankbar an, redete ihm zu, morgen lange zu schlafen und versprach, wenn sie Zeit fände, gegen acht Uhr heraufzukommen und ihn zu wecken. „Sie wecken ja so geschickt“, sagte Karl. „Ja einiges kann ich“, sagte sie, fuhr mit der Hand zum Abschied sanft über seine Decke hin und lief in ihr Zimmer.
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