Mit einem Male aber wieder lebhaft werdend rief sie und faßte dabei Karls Hände: „Jetzt da es sich herausgestellt hat, daß Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie z. B. Lust Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bißchen herumgekommen sind, werden Sie wissen daß es nicht besonders leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen, man sieht Sie immer, man gibt Ihnen kleine Aufträge, kurz, Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Für alles übrige lassen Sie mich sorgen!“ „Liftjunge möchte ich ganz gerne sein“, sagte Karl nach einer kleinen Pause. Es wäre ein großer Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grund gewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen. Übrigens hatten die Liftjungen Karl immer gefallen, sie waren ihm wie der Schmuck der Hotels vorgekommen. „Sind nicht Sprachenkenntnisse erforderlich?“ fragte er noch. „Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen.“ „Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt“, sagte Karl, er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. „Das spricht schon genügend für Sie“, sagte die Oberköchin. „Wenn ich daran denke, welche Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag.“ Und sie suchte lächelnd den Eindruck von Karls Mienen abzulesen, den die Würde dieses Alters auf ihn machte. „Dann wünsche ich Ihnen viel Glück“, sagte Karl. „Das kann man immer brauchen“, sagte sie, schüttelte Karl die Hand und wurde wieder halb traurig, über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.
„Aber ich halte Sie hier auf“, rief sie dann. „Und Sie sind gewiß sehr müde und wir können auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in Ihr Zimmer führen.“ „Ich habe noch eine Bitte Frau Oberköchin“, sagte Karl im Anblick des Telephonkastens der auf einem Tische stand. „Es ist möglich, daß mir morgen, vielleicht sehr früh, meine frühern Kameraden eine Photographie bringen, die ich dringend brauche. Wären Sie so freundlich und würden Sie dem Portier telephonieren, er möchte die Leute zu mir schicken oder mich holen lassen.“ „Gewiß“, sagte die Oberköchin, „aber würde es nicht genügen, wenn er ihnen die Photographie abnimmt? Was ist es denn für eine Photographie, wenn man fragen darf?“ „Es ist die Photographie meiner Eltern“, sagte Karl, „nein ich muß mit den Leuten selbst sprechen.“ Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab telephonisch in die Portiersloge den entsprechenden Befehl, wobei sie 536 als Zimmernummer Karls nannte.
Sie giengen dann durch eine der Eingangstüre entgegengesetzte Tür auf einen kleinen Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein kleiner Liftjunge schlafend lehnte. „Wir können uns selbst bedienen“, sagte die Oberköchin leise und ließ Karl in den Aufzug eintreten. „Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden ist eben ein wenig zu viel für einen solchen Jungen“, sagte sie dann während sie aufwärts fuhren. „Aber es ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieser kleine Junge z. B., er ist auch erst vor einem halben Jahr mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein Italiener. Jetzt sieht es aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein, trotzdem er von Natur sehr bereitwillig ist – aber er muß nur noch ein halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält alles mit Leichtigkeit aus und in fünf Jahren wird er ein starker Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein kräftiger Junge. Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?“ „Ich werde nächsten Monat sechzehn“, antwortete Karl. „Sogar erst sechzehn!“ sagte die Oberköchin. „Also nur Mut!“
Oben führte sie Karl in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine schiefe Wand hatte, im übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glühlampen sich sehr wohnlich zeigte. „Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung“, sagte die Oberköchin, „es ist nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die aber aus drei Zimmern besteht, so daß Sie mich nicht im geringsten stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so daß Sie ganz ungeniert bleiben. Morgen als neuer Hotelangestellter werden Sie natürlich Ihr eigenes Zimmerchen bekommen. Wären Sie mit Ihren Kameraden gekommen, dann hätte ich Ihnen in der gemeinsamen Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sie allein sind, denke ich, daß es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch nur auf einem Sopha schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl damit Sie sich für den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu streng sein.“ „Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit.“ „Warten Sie“, sagte sie beim Ausgang stehen bleibend, „da wären Sie aber bald geweckt worden.“ Und sie gieng zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte und rief: „Therese!“ „Bitte, Frau Oberköchin“, meldete sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin. „Wenn Du mich früh wecken gehst, so mußt Du über den Gang gehn, hier im Zimmer schläft ein Gast. Er ist totmüde.“ Sie lächelte Karl zu, während sie das sagte. „Hast Du verstanden?“ „Ja Frau Oberköchin.“ „Also dann gute Nacht!“ „Gute Nacht wünsch ich.“
„Ich schlafe nämlich“, sagte die Oberköchin zur Erklärung, „seit einigen Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meiner frühern Sorgen sein, die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh einschlafe kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein muß, muß ich mich wecken lassen undzwar besonders vorsichtig, damit ich nicht noch nervöser werde als ich schon bin. Und da weckt mich eben die Therese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles und ich komme gar nicht weg. Gute Nacht!“ Und trotz ihrer Schwere huschte sie fast aus dem Zimmer.
Karl freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen. Und behaglichere Umgebung konnte er für einen langen ungestörten Schlaf gar nicht wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein Wohnzimmer oder richtiger ein Repräsentationszimmer der Oberköchin und ein Waschtisch war ihm zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht, aber dennoch fühlte sich Karl nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt. Sein Koffer war richtig hergestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern, über den eine großmaschige wollene Decke gezogen war, standen verschiedene Photographien in Rahmen und unter Glas, bei der Besichtigung des Zimmers blieb Karl dort stehn und sah sie an. Es waren meist alte Photographien und stellten in der Mehrzahl Mädchen dar, die in unmodernen unbehaglichen Kleidern, mit locker aufgesetzten kleinen aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit den Blicken auswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Karl besonders das Bild eines jungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar dastand und voll von einem stolzen aber unterdrückten Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Photographie nachträglich vergoldet worden. Alle diese Photographien stammten wohl noch aus Europa, man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen können, aber Karl wollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diese Photographien hier standen, so hatte er auch die Photographie seiner Eltern in seinem künftigen Zimmer aufstellen mögen.
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