Wie zur Antwort stieg von der Straße her ein Mann mit einer stark leuchtenden Taschenlampe zu der Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel. Kaum hatte er Karl erblickt, sagte er: „Ich suche Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen auf beiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau Oberköchin läßt Ihnen nämlich sagen, daß sie den Strohkorb, den sie Ihnen geborgt hat dringend braucht.“ „Hier ist er“, sagte Karl mit einer vor Aufregung unsichern Stimme. Delamarche und Robinson waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseite getreten, wie sie es vor fremden gutgestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahm den Korb an sich und sagte: „Dann läßt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie es sich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotel übernachten wollten. Auch die beiden andern Herren wären willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen. Die Betten sind schon vorbereitet. Die Nacht ist ja heute warm, aber hier auf der Lehne ist es durchaus nicht ungefährlich zu schlafen, man findet öfters Schlangen.“ „Da die Frau Oberköchin so freundlich ist, werde ich ihre Einladung doch annehmen“, sagte Karl und wartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. Aber Robinson stand stumpf da und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute zu den Sternen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, daß Karl sie ohne weiters mitnehmen werde. „Für diesen Fall“, sagte der Kellner, „habe ich den Auftrag, Sie ins Hotel zu führen und Ihr Gepäck zu tragen.“ „Dann warten Sie bitte noch einen Augenblick“, sagte Karl und bückte sich um die paar Sachen, die noch herumlagen, in den Koffer zu legen.
Plötzlich richtete er sich auf. Die Photographie fehlte, sie hatte ganz oben im Koffer gelegen und war nirgends zu finden. Alles war vollständig, nur die Photographie fehlte. „Ich kann die Photographie nicht finden“, sagte er bittend zu Delamarche. „Was für eine Photographie?“ fragte dieser. „Die Photographie meiner Eltern“, sagte Karl. „Wir haben keine Photographie gesehn“, sagte Delamarche. „Es war keine Photographie drin, Herr Roßmann“, bestätigte auch Robinson von seiner Seite. „Aber das ist doch unmöglich“, sagte Karl und seine Hilfe suchenden Blicke zogen den Kellner näher. „Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie doch lieber den Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hätten.“ „Jeder Irrtum ist ausgeschlossen“, sagte Delamarche, „in dem Koffer war keine Photographie.“ „Sie war mir wichtiger, als alles was ich sonst im Koffer habe“, sagte Karl zum Kellner, der herumgieng und im Grase suchte. „Sie ist nämlich unersetzlich, ich bekomme keine zweite.“ Und als der Kellner von dem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er noch: „Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß.“ Daraufhin sagte der Kellner laut ohne jede Beschönigung: „Vielleicht könnten wir noch die Taschen der Herren untersuchen.“ „Ja“, sagte Karl sofort, „ich muß die Photographie finden. Aber ehe ich die Taschen durchsuche, sage ich noch, daß, wer mir die Photographie freiwillig gibt, den ganzen gefüllten Koffer bekommt.“ Nach einem Augenblick allgemeiner Stille sagte Karl zum Kellner: „Meine Kameraden wollen also offenbar die Taschendurchsuchung. Aber selbst jetzt verspreche ich sogar demjenigen, in dessen Tasche die Photographie gefunden wird, den ganzen Koffer. Mehr kann ich nicht tun.“ Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarche zu untersuchen, der ihm schwieriger zu behandeln schien, als Robinson, den er Karl überließ. Er machte Karl darauf aufmerksam, daß beide gleichzeitig untersucht werden müßten, da sonst einer unbeobachtet die Photographie beiseite schaffen könnte. Gleich beim ersten Griff fand Karl in Robinsons Tasche eine ihm gehörige Kravatte, aber er nahm sie nicht an sich und rief dem Kellner zu: „Was Sie bei Delamarche auch finden mögen, lassen Sie ihm bitte alles. Ich will nichts als die Photographie, nur die Photographie.“ Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Karl mit der Hand an die heiße fettige Brust Robinsons und da kam es ihm zu Bewußtsein, daß er an seinen Kameraden vielleicht ein großes Unrecht begehe. Er beeilte sich nun nach Möglichkeit. Im übrigen war alles umsonst, weder bei Robinson noch bei Delamarche fand sich die Photographie vor.
„Es hilft nichts“, sagte der Kellner. „Sie haben wahrscheinlich die Photographie zerrissen und die Stücke weggeworfen“, sagte Karl, „ich dachte sie wären meine Freunde, aber im Geheimen wollten sie mir nur schaden. Nicht eigentlich Robinson, der wäre gar nicht auf den Einfall gekommen, daß die Photographie solchen Wert für mich hat, aber desto mehr Delamarche.“ Karl sah nur den Kellner vor sich, dessen Laterne einen kleinen Kreis beleuchtete, während alles sonst, auch Delamarche und Robinson, in tiefem Dunkel war.
Es war natürlich gar nicht mehr die Rede davon, daß die beiden in das Hotel mitgenommen werden könnten. Der Kellner schwang den Koffer auf die Achsel, Karl nahm den Strohkorb und sie giengen. Karl war schon auf der Straße, als er im Nachdenken sich unterbrechend stehen blieb und in das Dunkel hinaufrief: „Hören Sie einmal! Sollte doch einer von Ihnen die Photographie noch haben und mir ins Hotel bringen wollen – er bekommt den Koffer noch immer und wird – ich schwöre es – nicht angezeigt.“ Es kam keine eigentliche Antwort herunter, nur ein abgerissenes Wort war zu hören, der Beginn eines Zurufes Robinsons, dem aber offenbar Delamarche sofort den Mund stopfte. Noch eine lange Weile wartete Karl ob man sich oben nicht doch noch anders entscheiden würde. Zweimal rief er in Abständen: „Ich bin noch immer da.“ Aber kein Laut antwortete, nur einmal rollte ein Stein den Abhang herab, vielleicht durch Zufall, vielleicht in einem verfehlten Wurf.
[ «« ]
Im Hotel wurde Karl gleich in eine Art Bureau geführt, in welchem die Oberköchin ein Vormerkbuch in der Hand einer jungen Schreibmaschinistin einen Brief in die Schreibmaschine diktierte. Das äußerst präcise Diktieren, der beherrschte und elastische Tastenschlag jagten an dem nur hie und da merklichen Ticken der Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf Uhr zeigte. „So!“ sagte die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu, die Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte den Holzdeckel über die Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Karl zu lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war sehr sorgfältig gebügelt, auf den Achseln z. B. gewellt, die Frisur recht hoch und man staunte ein wenig wenn man nach diesen Einzelnheiten ihr ernstes Gesicht sah. Nach Verbeugungen zuerst gegen die Oberköchin, dann gegen Karl entfernte sie sich und Karl sah unwillkürlich die Oberköchin mit einem fragenden Blicke an.
„Das ist aber schön, daß Sie nun doch gekommen sind“, sagte die Oberköchin. „Und Ihre Kameraden?“ „Ich habe sie nicht mitgenommen“, sagte Karl. „Die marschieren wohl sehr früh aus“, sagte die Oberköchin, wie um sich die Sache zu erklären. „Muß sie denn nicht denken, daß ich auch mitmarschiere?“ fragte sich Karl und sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen: „Wir sind in Unfrieden aus einander gegangen.“ Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen. „Dann sind Sie also frei?“ fragte sie. „Ja frei bin ich“, sagte Karl und nichts schien ihm wertloser. „Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?“ fragte die Oberköchin. „Sehr gern“, sagte Karl, „ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann z. B. nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben.“ „Das ist nicht das wichtigste“, sagte die Oberköchin. „Sie bekämen eben vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müßten dann zusehn, durch Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinaufzubringen. Jedenfalls aber glaube ich, daß es für Sie besser und passender wäre sich irgendwo festzusetzen statt so durch die Welt zu bummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht gemacht.“ „Das würde alles auch der Onkel unterschreiben“, sagte sich Karl und nickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, daß er, um den man so besorgt war, sich noch gar nicht vorgestellt hatte. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er, „daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Roßmann.“ „Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?“ „Ja“, sagte Karl, „ich bin noch nicht lange in Amerika.“ „Von wo sind Sie denn?“ „Aus Prag in Böhmen“, sagte Karl. „Sehn Sie einmal an“, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, „dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur einmal!“ „Wann ist das gewesen?“ fragte Karl. „Das ist schon viele viele Jahre her.“ „Die alte Goldene Gans“, sagte Karl, „ist vor zwei Jahren niedergerissen worden.“ „Ja, freilich“, sagte die Oberköchin ganz in Gedanken an vergangene Zeiten.
Читать дальше