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Details of St. Petersburg (1850)
»They manage to get a helicopter, an airplane. Police«, sagt Branko.
Sie machen einen Plan: In Brankos Boot wollen sie die Küste der Insel abfahren. Kunicki ruft seine Eltern in Polen an, er hört die brüchige Stimme seines Vaters, sagt ihm, sie müssten noch drei Tage bleiben. Er sagt nicht die Wahrheit. Alles ist in Ordnung, sie müssen bloß noch etwas bleiben. Er ruft auch bei der Arbeit an, es gebe ein kleines Problem, er bittet um weitere drei Tage Urlaub. Er weiß nicht, warum er genau »drei Tage« sagt.
Er erwartet Branko am Hafen. Branko trägt jetzt ein neues Hemd mit einer roten Muschel darauf, es ist frisch und sauber, offenbar hat er mehrere von der Sorte. Sein kleiner Kutter liegt zwischen anderen vertäuten Booten. In unbeholfenen hellblauen Lettern steht der Name auf der Bootswand: »Neptun«. Kunicki fällt ein, dass die Fähre, mit der sie angekommen waren, »Poseidon« hieß. Dieser Name taucht hier an so vielen Stellen auf: Bars, Läden und Boote heißen Poseidon. Oder Neptun. Diese beiden Namen wirft das Meer wie Muscheln aus. Wie haben sie sich wohl das Copyright bei dieser Gottheit gesichert? Und womit bezahlt?
Sie setzen sich im Kutter zurecht. Eigentlich handelt es sich eher um ein Motorboot mit einer Kabine, die nachlässig aus Holzbrettern zusammengezimmert ist. Dort bewahrt Branko Wasserflaschen auf, leere und volle. In einigen Flaschen ist Wein aus seinem Weingarten, ein guter, starker Weißwein. Branko holt den Motor aus der Kabine und montiert ihn am Heck. Beim dritten Versuch springt er an, jetzt müssen sie sich schreiend verständigen. Der Lärm ist erst unerträglich, aber bald hat sich das Gehirn daran gewöhnt, so wie an dicke Winterkleidung, die den Körper von der Außenwelt abschottet. Nach und nach versinkt der Anblick der immer kleiner werdenden Bucht und des Hafens in dem Lärm. Kunicki erkennt das Haus, in dem sie gewohnt haben, sogar das Küchenfenster und die emporragende Agave, wie ein erstarrtes Feuerwerk, eine triumphale Ejakulation.
Vor seinen Augen schnurrt alles zusammen und verschwimmt: Die Häuser werden zu einer ungleichmäßigen dunklen Linie, der Hafen zu einem chaotischen weißen Fleck mit den kreuz und quer ragenden Masten. Dafür wachsen hinter der Stadt Berge empor, nackte, graue Berge mit den grünen Tupfen der Weinstöcke. Sie wachsen, werden riesig. Im Inland, von der Straße aus, wirkte die Insel klein, jetzt sieht man ihre Wucht, ein zu einem monumentalen Kegel geformter Felsbrocken, eine aus dem Wasser gereckte Faust.
Sie biegen nach links, kommen aus der Bucht aufs offene Meer hinaus, und von hier sieht die Küste der Insel steil und bedrohlich aus.
Die weißen Kämme der an die Felsen brandenden Wellen und die Vögel, die das Auftauchen des Bootes in Unruhe versetzt hat, bringen Bewegung in das Bild. Als sie zur Rückfahrt wieder den Motor anlassen, verschwinden die aufgescheuchten Vögel. Und noch etwas: ein senkrechter Kondensstreifen, der den Himmel in zwei Flächen zerschneidet. Ein Flugzeug fliegt nach Süden.
Es geht los. Branko zündet zwei Zigaretten an, eine gibt er Kunicki. Das Rauchen ist schwierig, unter dem Bug sprüht das Wasser auf und überzieht alles mit kleinen Tröpfchen.
»Guck aufs Wasser«, schreit Branko. »Auf alles, was schwimmt.«
Als sie sich einer Bucht mit einer Höhle nähern, sehen sie einen Hubschrauber, der in die entgegengesetzte Richtung fliegt. Branko stellt sich ins Boot und winkt. Kunicki blickt fast glücklich auf die Maschine. Die Insel ist doch nicht groß, denkt er zum hundertsten Mal, von oben betrachtet wird sich nichts vor den Augen des großen mechanischen Insekts verbergen können, alles liegt offen da wie auf dem Präsentierteller.
»Fahren wir zur Poseidon«, ruft er Branko zu, aber der will nicht so recht.
»Dort gibt es keine Durchfahrt«, schreit er zurück.
Aber der Kutter biegt ab und verlangsamt die Fahrt. Mit abgestelltem Motor treiben sie zwischen den Felsen.
Dieser Teil der Insel müsste auch Poseidon heißen, so wie alles andere, denkt Kunicki. Gott hatte sich hier seine eigenen Kathedralen gebaut mit Haupt- und Nebenschiff, Säulen und Chor. Die Perspektiven sind planlos, der Rhythmus falsch und ungleichmäßig. Die Felsen aus schwarzem Magma glänzen nass, wie mit einem seltenen dunklen Metall überzogen. Jetzt, im Dämmer, sind diese Bauwerke erschütternd traurig, das ist die Quintessenz der Verlassenheit, hier hat noch nie jemand gebetet. Kunicki meint plötzlich, hier die Urform der Kirchen der Menschen zu erblicken. Hierher müsste man reisen, bevor man nach Reims oder Chartres fährt.
Er möchte diese Entdeckung mit Branko teilen, aber der Lärm ist zu groß, man kann kein Wort wechseln. Sie sehen ein anderes größeres Boot mit der Aufschrift »Policie. Split«. Es fährt an der Steilküste entlang. Die Boote fahren aufeinander zu, Branko spricht kurz mit den Polizisten. Keine Spur ist zu entdecken, nichts. Das entnimmt Kunicki jedenfalls, das Knattern der Motoren übertönt das Gespräch. Offenbar verständigen sie sich mit Lippenbewegungen und einem sanften ratlosen Schulterzucken, was nicht zu ihren weißen Polizeihemden mit den Achselklappen passt. Sie geben mit Gebärden zu verstehen, man solle umkehren, gleich würde es dunkel. »Kehrt um!«, diese Worte versteht Kunicki. Branko gibt Gas, es hört sich an wie eine Explosion. Das Wasser bebt, kleine Wellen laufen auseinander, wie ein Schauder.
Als sie sich jetzt der Insel nähern, wirkt alles ganz anders als bei Tag. Zuerst sehen sie das Lichtergefunkel, das mit jedem Moment klarer in einzelne Punkte zerfällt, die Reihen bilden. Sie wachsen im sinkenden Dunkel, treten einzeln und verschiedenartig hervor: Die Lichter der Yachten vor dem Ufer sind anders als die in den Häusern, wieder anders sind die erleuchteten Schilder und die beweglichen Scheinwerfer der Autos. Eine gezähmte Welt, die Sicherheit ausstrahlt.
Schließlich schaltet Branko den Motor aus, und das Boot erreicht das Ufer. Unerwartet scheuert der Bootsboden auf Kies – sie sind auf dem kleinen Strand, des Ortes angekommen, gleich neben dem Hotel und weit vom Hafen. Kunicki ahnt, weshalb. An der Rampe, gleich am Strand, steht ein Polizeiauto, zwei Männer in weißen Hemden warten offensichtlich auf sie.
»Ich glaube, die wollen mit dir reden«, sagt Branko und vertäut das Boot. Kunicki wird plötzlich ganz schwach zumute, er hat Angst vor dem, was er vielleicht gleich hören wird. Dass sie die Leichen gefunden haben. Davor hat er Angst. Mit weichen Knien geht er auf sie zu.
Gott sei Dank – es ist nur ein normales Verhör. Nein, es gibt nichts Neues. Aber inzwischen ist so viel Zeit vergangen, die Angelegenheit ist sehr ernst geworden. Sie bringen ihn über die einzige Straße der Insel nach Vis auf die Wache. Es ist schon stockdunkel, aber offensichtlich kennen sie den Weg gut, sie gehen nicht mal in den Kurven vom Gas. An jener Stelle fahren sie schnell vorbei. Auf der Wache warten weitere Leute auf ihn. Ein Übersetzer – ein großer gutaussehender Mann, den sie extra aus Split hergeholt haben und der offen gestanden sehr wenig Polnisch spricht – und noch ein Polizist. Sie stellen Routinefragen, fast gleichgültig, und ihm wird langsam klar, dass er verdächtigt wird.
Sie bringen ihn bis direkt ans Hotel. Er steigt aus und tut so, als ginge er hinein. Aber er bleibt in dem dunklen Vestibül stehen, bis sie fort sind, bis das Brummen des Motors verklungen ist, dann tritt er wieder hinaus auf die Straße. Er geht auf die nächste Ansammlung von Lichtern zu, in Richtung des Boulevards am Hafen, wo sich die Cafés und Restaurants befinden. Aber es ist schon spät, und obwohl Freitag ist, sind nicht mehr viele unterwegs, es muss schon ein, zwei Uhr nachts sein. Unter den spärlichen Gästen an den Tischen sucht er nach Branko, aber er kann ihn nicht entdecken, das Hemd mit dem Muschelmotiv ist nirgends zu sehen. Italiener sind da, eine ganze Familie, sie sind gerade mit dem Essen fertig, er nimmt auch zwei ältere Leute wahr, die ein Getränk mit dem Strohhalm trinken und die lärmende italienische Familie mustern. Zwei blonde Frauen sitzen einander vertraulich zugeneigt ins Gespräch vertieft, ab und zu berühren sich ihre Schultern. Männer aus dem Ort, Fischer, ein Paar. Welch ein Glück, dass ihn niemand beachtet … Er geht im Schatten direkt am Ufer entlang, spürt den Geruch nach Fisch und den warmen salzigen Hauch des Meeres. Er hat Lust, eine der kleinen Gassen hinaufzugehen, die zu Brankos Haus führen, aber er traut sich nicht, bestimmt schlafen sie schon. Schließlich setzt er sich an einen kleinen Tisch am Rand einer Terrasse. Der Kellner ignoriert ihn.
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