Im Schlaf hört er Tropfen, die vereinzelt vom Himmel fallen und kurz darauf zu einem heftigen kurzen Wolkenbruch werden.
April auf der Autobahn, rote Sonnenstreifen auf dem Asphalt, eine vom Regen wie mit sorgfältig aufgetragenem Zuckerguss überzogene Welt – ein Osterkuchen. Es ist Karfreitag, irgendwo zwischen Belgien und Holland bin ich mit dem Auto unterwegs, ich weiß nicht genau, in welchem Land ich bin, die Grenze ist verschwunden, hat sich verwischt, wird nicht mehr gebraucht. Im Radio wird ein Requiem übertragen. Beim Benedictus leuchten plötzlich entlang der Autobahn die Lampen auf, als wollten sie den mir unfreiwillig übers Radio erteilten Segen wirksam werden lassen.
Eigentlich kann es aber auch nur daran gelegen haben, dass ich nun in Belgien angelangt war, wo man alle Autobahnen reisefreundlich zu beleuchten pflegt.
Das Panoptikum und die Wunderkammer sind, wie ich einem Museumsführer entnahm, ein etabliertes Paar, das einen Vorläufer der Museen darstellt. Dort zeigte man alle möglichen gesammelten Kuriositäten, die die Eigentümer von ihren Reisen nach nah und fern mitgebracht hatten.
Man sollte nicht vergessen, dass Bentham sein geniales System zur Überwachung von Gefangenen auch als Panoptikum bezeichnete: Er plante eine Anlage, die räumlich so gestaltet war, dass jeder Gefangene jederzeit beobachtet werden konnte.
So groß ist die Insel ja nun auch wieder nicht«, sagt Djudzica am nächsten Morgen zu Branko, als sie ihm einen starken schwarzen Kaffee einschenkt.
Alle wiederholen diese Worte wie ein Mantra. Kunicki versteht, was sie sagen wollen, er weiß ja selbst, dass die Insel so klein ist, dass man nicht darauf verloren gehen kann. Die Insel ist nur zehn Kilometer lang, und es gibt zwei größere Orte darauf: Vis und Komiża. Man kann sie Zentimeter für Zentimeter durchsuchen, wie eine Schublade. Und in bei-den Orten kennen sich alle. Die Nächte sind warm, auf den Feldern wächst der Wein, die Feigen sind fast schon reif. Selbst wenn sie sich verirrt hätten, würde ihnen nichts zustoßen, sie würden weder verhungern noch erfrieren und auch nicht Opfer wilder Tiere werden. Sie würden eine warme Nacht im trockenen, sonnenerhitzten Gras verbringen, unter den Zweigen eines Olivenbaums und beim schläfrigen Rauschen des Meeres. Von keiner Stelle aus sind es mehr als drei, vier Kilometer zur Landstraße. Auf den Feldern stehen Steinhütten, wo die Weinfässer aufbewahrt werden, manchmal sind auch Essen und Kerzen da. Zum Frühstück nehmen sie sich eine Handvoll reife Weintrauben oder bekommen bei den Sommergästen in einer der Buchten eine richtige Mahlzeit.
Sie gehen hinunter zum Hotel, wo schon ein Polizist auf sie wartet, diesmal ist es ein anderer, jüngerer. Einen Augenblick lang hat Kunicki die Hoffnung, dass er gute Nachrichten hat, aber der Polizist fragt nur nach seinem Pass. Alle Angaben schreibt er ganz genau auf, sagt, dass sie jetzt auch auf dem Festland nach den beiden suchen werden, in Split. Und auf den benachbarten Inseln.
»Vielleicht sind sie übergesetzt«, erklärt er.
»Sie hatte kein Geld. No money. Alles ist hier drin.« Kunicki zeigt die Tasche und zieht ihr Portemonnaie heraus, es ist rot und mit kleinen Perlen bestickt. Er öffnet es und hält es dem Polizisten unter die Nase.
Der zuckt mit den Schultern und notiert seine Adresse in Polen.
»Wie alt ist das Kind?«
»Drei«, sagt Kunicki.
Sie fahren über eine Serpentinenstraße an dieselbe Stelle, der Tag verspricht heiß und klar zu werden, erleuchtet wie ein Dia. Am Mittag wird das Bild ganz daraus verschwinden. Kunicki denkt über die Möglichkeit nach, die Insel von oben zu betrachten, aus einem Hubschrauber, sie ist ja fast kahl. Er denkt auch an Erkennungschips, wie sie Vögeln eingesetzt werden, Kranichen und Störchen, aber für Menschen gibt es keine. Alle sollten so einen Chip haben, zu ihrer eigenen Sicherheit. Später könnte man dann alle ihre Bewegungen im Internet verfolgen: Strecken, Begegnungen, Verirrungen. Wie viele könnten vorm Tod gerettet werden! Er sieht einen Computerbildschirm vor sich, darauf bunte Linien, die Menschen bezeichnen, lauter Spuren, Zeichen. Kreise und Ellipsen, Labyrinthe. Vielleicht auch Endlosschleifen, vielleicht missratene Spiralen, die plötzlich abbrechen.
Ein Hund ist da, ein schwarzer Schäferhund, sie halten ihm ihren Pullover vom Rücksitz vor die Nase. Der Hund schnüffelt um das Auto herum, dann schlägt er den Pfad zwischen den Olivenbäumen ein. Kunicki fühlt plötzlich, wie neue Energie in ihm erwacht, gleich wird sich alles aufklären. Sie laufen hinter dem Hund her. Der Schäferhund bleibt an einer Stelle stehen, offenbar haben sie hier ihre Notdurft verrichtet, obwohl man keine Spur davon sieht. Er bleibt stehen, mit sich zufrieden – aber wir sind noch nicht fertig, Hund! Wo sind die Leute, wohin sind sie gegangen? Der Hund versteht nicht, was sie von ihm wollen, aber nach kurzem Zögern bewegt er sich weiter, biegt seitlich ab, Richtung Straße, weg von den Weingärten.
Dann ist sie an der Straße entlang gegangen, denkt Kunicki. Sie muss sich vertan haben. Sie mochte weiter unten an der Straße herausgekommen sein und auf ihn gewartet haben. Aber hatte sie die Hupe nicht gehört? Und dann? Vielleicht hatte jemand sie mitgenommen – doch wohin, da sie ja nicht aufzufinden waren? Jemand. Eine unscharfe, verschwommene breitschultrige Gestalt. Ein schwerer Nacken. Entführung. Hatte er sie geknebelt und in den Kofferraum verfrachtet? Dann hatte er sie mit der Fähre aufs Festland gebracht, und jetzt sind sie schon in Zagreb oder München oder werweißwo. Aber wie konnte er mit zwei bewusstlosen Menschen die Grenze überqueren?
Nun biegt der Hund in eine leere Schlucht ein, die schräg von der Straße abgeht, eine lange steinige Rinne, die läuft er hinab, über das Geröll. Dort fängt ein schmaler, verwilderter alter Weingarten an, darin steht ein kleines, mit rostigem Wellblech gedecktes Steinhäuschen, das an einen Kiosk erinnert. Vor der Tür liegt ein Haufen vertrockneter Traubenpergel, wahrscheinlich zum Verbrennen. Der Hund läuft im Kreis um das Haus, kehrt dann zur Tür zurück. Doch die Tür ist mit einem Vorhängeschloss versperrt, sie schauen alle verdutzt. Der Wind hat Reisig auf die Schwelle geweht, man sieht, dass hier niemand hineingegangen ist. Der Polizist schaut durch die schmutzige Scheibe ins Innere und rüttelt dann an der Scheibe. Er rüttelt immer fester und fester, bis sie nachgibt. Alle schauen hinein, Modergeruch schlägt ihnen entgegen und der Geruch nach Meer, der allgegenwärtige.
Die Walkie-Talkies rauschen, der Hund bekommt zu trinken, dann lässt man ihn wieder an dem Pullover schnüffeln. Jetzt macht er drei Runden um das Haus, kehrt zum Weg zurück, trabt nach kurzem Zögern auf dem Weg weiter, auf ein paar kahle Felsen zu, nur mit einzelnen Grasbüscheln bewachsen. Tief unten am Abhang sieht man das Meer. Dort bleiben alle Sucher stehen, das Gesicht dem Wasser zugewandt.
Der Hund hat die Spur verloren, kehrt zurück, legt sich schließlich mitten auf den Pfad.
»To je zato jer je po noci padala kisa«, sagt jemand auf Kroatisch, und Kunicki versteht genau, dass es um den Regen geht, der in der Nacht gefallen ist.
Branko lädt ihn zu einem späten Mittagessen ein. Die Polizisten bleiben zurück, sie fahren nach Komiża. Sie reden kaum ein Wort. Kunicki kann sich denken, dass Branko nicht weiß, was er sagen soll, dazu noch in einer fremden Sprache, auf Englisch. Nun gut, er braucht nichts zu sagen. In einem Restaurant direkt am Meer bestellen sie gebratenen Fisch. Eigentlich ist es kein Restaurant, es ist die Küche von Brankos Bekannten. Hier sind alle seine Bekannten, sie sehen sich sogar ähnlich, ihre Gesichtszüge sind irgendwie schärfer, die Gesichter wie vom Wind gegerbt, ein Stamm der Seewölfe. Branko schenkt ihm Wein ein, redet ihm zu, er soll trinken. Er selbst leert sein Glas in einem Zug. Er lässt nicht zu, dass Kunicki bezahlt. Branko bekommt einen Anruf.
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