Doch bei all diesem viehischen Leben vermieden sie die Kranken soviel als möglich. Bei dem großen Unglück und Elend, das unsere Stadt betraf, war die ehrwürdige Gewalt der Gesetze, sowohl göttlicher als auch menschlicher, fast gänzlich herabgesunken und aufgelöst, weil ihre Diener und Vollstrecker, ebenso wie die anderen Einwohner, entweder tot oder krank oder so sehr von Helfern entblößt waren, dass sie ihre Dienste auf keine Weise verrichten konnten; daher es einem jeden freistand, zu handeln, wie er wollte.
Manche hielten auch zwischen denen, von welchen wir vorher gesprochen, die Mittelstraße, indem sie im Essen und Trinken sich kein so strenges Maß vorschrieben wie die zuerst erwähnten und sich doch auch der Völlerei und anderen Ausschweifungen nicht überließen wie die andern, sondern sie bedienten sich aller Dinge in hinreichendem Maße, um ihre Wünsche zu befriedigen, und statt sich einzusperren, gingen sie umher, einige mit Sträußen von wohlriechenden Blumen und Kräutern, einige mit verschiedenen Spezereien in den Händen, die sie oft an die Nase hielten. Denn sie glaubten, es wäre heilsam, durch Wohlgerüche das Gehirn zu stärken, da die Luft überall mit Gestank und Ausdünstung von Leichen, Kranken und Arzneien geschwängert schien. Einige andere dachten noch hartherziger – und gingen darin wohl sicherer – und sagten, die beste Arznei gegen die Pest wäre die Flucht. Von diesem Beweggrunde getrieben, und ohne sich um jemand anders als um sich selbst zu kümmern, verließen sehr viele Männer und Frauen die Stadt und ihre Häuser, Wohnungen, Verwandten und Habseligkeiten und flohen in die Fremde oder wenigstens aufs Land, auf ihre eigenen Güter, als wenn Gottes Zorn, der die Sünden der Menschen durch diese Pestilenz strafte, ihnen nach dem Orte ihrer Zuflucht nicht hätte folgen können, sondern nur die aufzureiben bedacht gewesen wäre, die sich innerhalb der Stadtmauern befanden, als wollte die Pest nur in der Stadt keinen Menschen leben lassen, und die Stunde ihres Unterganges wäre gekommen.
Obwohl nun diese verschieden gesinnten Menschen nicht alle starben, so kamen sie doch auch nicht alle mit dem Leben davon. Sondern, indem viele von den Anhängern jeder Meinung erkrankten, so wurden sie nach dem Beispiele, das sie jederzeit, solange sie gesund waren, selbst gegeben hatten, von denen, die jetzt gesund blieben, wieder verlassen und mussten fast einsam dahinschmachten. Es mochte noch hingehen, dass ein Bürger den andern verließ und dass fast kein Nachbar sich des andern annahm, dass Verwandte einander selten oder gar nicht besuchten und sich nur von Ferne sahen. Aber so tief hatte der Schrecken dieser Heimsuchung die Brust der Menschen beiderlei Geschlechts durchdrungen, dass ein Bruder den andern verließ, der Oheim den Neffen, die Schwester den Bruder, ja, nicht selten, das Weib den Mann, und was noch weit mehr und schier unglaublich ist: Väter und Mütter ließen sogar ihre Kinder, als ob sie ihnen nicht angehörten, ohne Besuch und ohne Pflege. Deswegen blieb auch für die unbeschreibliche Menge der Kranken, Männer und Weiber, keine andere Hilfe und Beistand übrig als das Mitleid der Freunde (und deren gab es wenige) oder die Gewinnsucht der Wärter, die sich durch großen und unerschwinglichen Lohn anlocken ließen, wiewohl auch diese nicht in großer Anzahl zu finden und die meisten nur Menschen von groben Begriffen waren und wenig gewohnt an dergleichen Dienste, daher man sie denn auch fast zu nichts weiter gebrauchen konnte, als um den Kranken dieses und jenes zu reichen, das sie verlangten, und achtzugeben, wenn sie starben. Bei diesem Geschäfte kostete ihr Verdienst ihnen selbst oft das Leben.
Da nun die Kranken von ihren Nachbarn, Verwandten und Freunden verlassen wurden und die Zahl der Krankenwärter so gering war, so entstand daher eine Unsitte, die bis dahin nicht erhört gewesen war. Keine Dame nämlich, sie mochte so schön, liebenswürdig oder wohlerzogen sein, wie sie wolle, trug Bedenken, sich von Mannspersonen bedienen zu lassen, gleichviel, ob sie jung oder alt waren, und wenn es die Umstände der Krankheit notwendig machten, vor ihnen, wie vor ihren weiblichen Bedienten, ohne alle Scham jeden Körperteil zu entblößen, welches denn vielleicht manchen, die mit dem Leben davonkamen, in der Folge Anlass gab, weniger streng auf ihre Ehrbarkeit zu halten. Überdies fanden manche dabei ihren Tod, die vielleicht wieder gesund geworden wären, wenn sie die gehörige Aufwartung gehabt hätten. So aber war, teils wegen Mangel an gehöriger Bedienung und Verpflegung der Kranken, teils wegen der Bösartigkeit der Seuche, die Menge derer, die Tag und Nacht daran hinstarben, so groß, dass es schrecklich war, davon zu hören, und noch mehr, es zu sehen, denn die Not trieb die Überlebenden zu solchen Handlungen, die sonst den Gebräuchen unserer Mitbürger ganz entgegen waren.
So war es sonst Sitte (wie auch noch heutigen Tages bei uns), dass die weiblichen Verwandten und Nachbarinnen sich im Hause des Verstorbenen versammelten und mit denen, die ihm am nächsten angehörten, seinen Tod beweinten; auch pflegten sich vor der Haustür die männlichen Verwandten und Nachbarn nebst vielen andern Mitbürgern einzustellen, und nach Maßgabe des Ranges des Verstorbenen erschien auch die Geistlichkeit mehr oder weniger zahlreich, worauf dann Männer seines eigenen Standes ihn auf ihren Schultern, mit feierlichem Gepränge von Wachsfackeln und Gesang, nach der Kirche trugen, die er selbst vor seinem Tode sich auserwählt hatte – welches alles, wie die Wut der Seuche aufs höchste stieg, entweder gänzlich, oder doch größtenteils unterblieb und andere Neuerungen dagegen aufkamen. Denn es starben nicht nur manche Leute, ohne viele Leidträgerinnen um sich zu haben, sondern viele schieden ganz ohne Zeugen aus der Welt, und nur sehr gering war die Zahl derer, welchen die mitleidige Klage und die zärtliche Abschiedsträne zuteil ward; vielmehr sah man oft stattdessen Gelächter und Lärm und lustige Gelage, in die zum Teil auch die Frauen, unter dem Vorwande, ihre Gesundheit zu verwahren, mit Hintansetzung ihres weiblichen Zartgefühls, sich bald fügen lernten. Es gab nur selten Leichen, die von mehr als zehn bis zwölf von ihren Nachbarn zur Kirche begleitet wurden, und zwar wurden sie nicht von ehrbaren und würdigen Mitbürgern zur Gruft getragen, sondern gewisse Totengräber aus der niedrigsten Klasse des Pöbels, Pestknechte genannt, verrichteten diesen Dienst nur gegen hohen Lohn, trugen die Bahre und schleppten sie, fast im Laufschritt, nicht nach der Kirche, die etwa der Sterbende gewählt hatte, sondern nach der nächsten besten, wobei oft nicht über vier bis sechs Geistliche mit wenigen Kerzen vorangingen und bisweilen kein einziger, da denn mithilfe der Pestknechte die Leiche ohne langes „In requiem“ in irgendein leeres Grab, das am ersten bei der Hand war, eiligst hineingesenkt ward.
Um den gemeinen Mann, zum Teil auch um den Mittelstand sah es noch weit elender aus. Denn indem diese, entweder von der Hoffnung hingehalten oder durch ihre Armut gezwungen, sich in ihren Häusern hielten und nahe beieinander wohnten, so erkrankten sie täglich zu Tausenden. Da sie weder Pflege noch irgendeine Hilfe fanden, so mussten sie fast alle ohne Rettung sterben. Viele fanden ihren Tod auf öffentlicher Straße bei Nacht und bei Tage, und manche, die zwar in den Häusern starben, ließen ihre Nachbarn eher durch den Gestank ihrer faulenden Leichen als auf andere Art ihren Tod erfahren. Von diesen und von andern, denn überall starben Menschen, machte sich der Verwesungsgeruch allenthalben bemerkbar. Die meisten Nachbarn schleppten, nicht weniger vor Furcht vor Ansteckung durch die verwesenden Leichen als von christlichem Mitleid für die Toten bewogen, gewöhnlich die Leichen entweder allein oder mit Beihilfe einiger Träger (wenn sie ihrer habhaft werden konnten) aus den Häusern und legten sie vor den Türen nieder, wo man sie besonders des Morgens in Menge sehen konnte, wenn man in der Stadt umherging. Alsdann ließ man Bahren kommen, oder wenn sie fehlten, so legte man die Leichen auch wohl nur auf irgendein Brett. Da sah man denn mehr als eine Bahre, auf der zwei bis drei Leichen übereinander lagen, und es war nichts Seltenes, sondern trug sich sehr oft zu, dass Mann und Frau, zwei bis drei Brüder oder Vater und Sohn zugleich auf einmal weggetragen wurden. Es traf sich auch nicht selten, wenn ein paar Geistliche mit dem Kreuze hingingen, um einen Toten abzuholen, dass sich noch drei bis vier Bahren anschlossen und dass die Priester, wenn sie meinten, nur eine Leiche zu bestatten, wohl sechs bis acht und bisweilen noch mehr zu begraben hatten. Und doch wurden alle diese keiner Träne, keiner Leichenfackel und keiner ehrbaren Begleitung gewürdigt, sondern es war so weit gekommen, dass man sich um einen sterbenden Menschen nicht mehr als heutigen Tages um eine verreckte Ziege bekümmerte. Es lässt sich leicht denken, dass, was der natürliche Lauf der Dinge den Weisesten nicht durch kleine und seltene Unglücksfälle lehren konnte, nämlich, durch Geduld die Größe des Übels zu überwinden, bei der Größe des Elends jetzt auch von den Einfältigen gelernt wurde.
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