Andreuccio, ohne in der Herberge etwas verlauten zu lassen, sagte geschwind: „Geh nur voran, ich will dir folgen.“
Das Mädchen führte ihn also nach dem Hause ihrer Herrin, die in dem Viertel Malpertugio wohnte. Aus dem Namen, der so viel wie Dreckloch heißt, kann man schon schließen, wie ehrbar es da zugeht. Weil aber Andreuccio davon nichts ahnte, sondern glaubte, er ginge nach einem anständigen Ort und zu einer liebenswürdigen Dame, so folgte er mit fröhlichen Schritten der Magd bis an das Haus ihrer Gebieterin, stieg die Treppe hinauf und fand die Dame, der die Magd seine Ankunft schon gemeldet hatte, im Begriff, ihm entgegenzukommen. Sie war noch ziemlich jung, schlank gewachsen, schön von Angesicht und sehr anständig gekleidet und geschmückt, und wie Andreuccio sich ihr näherte, sprang sie drei Stufen hinunter, öffnete ihre Arme, fiel ihm um den Hals und brachte einige Sekunden zu, ohne ein Wort zu sagen, als wenn sie vor übergroßer Rührung nicht sprechen könne. Endlich küsste sie ihn mit Tränen in den Augen auf die Stirne und sprach mit halb gebrochener Stimme: „Ach, lieber Andreuccio, sei mir willkommen!“
Er war über ihre zärtlichen Liebkosungen nicht wenig verdutzt und konnte nur stammeln: „Madonna – es freut mich – Sie kennenzulernen.“
Sie nahm ihn darauf bei der Hand und führte ihn in ihre Kammer. Hier roch alles nach Rosen, Orangenblüten und anderen Wohlgerüchen, hier fand er ein prächtiges Bett, mit schönen Vorhängen geziert, und an der Wand hingen, nach dortiger Sitte auf Bügeln, eine Menge Kleider nebst anderem schönen und reichen Gerät. Aus allen diesen Dingen schloss der grüne Junge, dass sie gewiss nichts anderes als eine vornehme Frau sein könne. Sie setzte sich mit ihm auf eine Truhe am Fuß ihrer Bettstelle und fing an, ihn folgendermaßen anzureden: „Ich kann mir wohl vorstellen, Andreuccio, dass dich sowohl meine Liebkosungen als meine Tränen gewaltig wundern müssen, da du mich gar nicht kennst und vielleicht nie etwas von mir gehört hast. Aber du wirst dich gewiss noch weit mehr wundern, wenn ich dir sage, dass ich deine Schwester bin, und wenn ich dir versichere, dass ich jetzt, da mir Gott die Gnade erzeigt, mich vor meinem Ende einen meiner Brüder sehen zu lassen (wiewohl ich wünschte, euch alle hier zu sehen), mit viel mehr Ruhe sterben werde, und wenn dir vielleicht nie etwas davon zu Ohren gekommen ist, so will ich dir‘s erzählen.
Pietro, dein Vater und der meinige, lebte (wie du gewiss wirst gehört haben) eine Zeitlang in Palermo, wo er wegen seiner Herzensgüte und Umgänglichkeit bei jedermann, der ihn kannte, beliebt war und noch ist. Unter denjenigen, deren Liebe er besonders gewann, befand sich auch meine Mutter, eine adelige Dame, welche damals Witwe war und ihn so innig liebte, dass sie ohne Rücksicht auf ihren Vater, ihre Brüder und ihre eigene Ehre sich ihm so sehr ergab, dass ich, die ich jetzt mit dir rede, die Frucht ihrer Liebe ward. Wie es nach einiger Zeit die Umstände erforderten, dass Pietro Palermo verlassen musste, ließ er meine Mutter und mich als ein kleines Kind zurück und hat sich, soviel ich weiß, weder um sie noch um mich jemals wieder bekümmert. Ja, wenn er nicht mein Vater gewesen wäre, so wäre ich ihm sehr gram, dass er so undankbar gegen meine Mutter handelte, die sich und das Ihrige, ohne ihn recht zu kennen, aus herzlicher, treuer Liebe so gänzlich hingab. Denn von der Liebe zu mir, die ich doch von keiner Magd oder gemeinem Weibsbilde geboren bin, will ich gar nicht einmal reden. Allein, was ist zu tun? Ungerechtigkeiten, die vor langer Zeit begangen sind, kann man wohl rügen, aber nicht so leicht bessern. Genug, es war so. Er hinterließ mich als ein kleines Kind in Palermo, und wie ich heranwuchs (fast so groß, wie du mich jetzt siehst), vermählte mich meine Mutter, eine reiche und vornehme Frau, mit einem braven Edelmann aus Girgenti, der aus Liebe zu mir und zu meiner Mutter sich in Palermo wohnhaft niederließ, und weil er sehr welfisch gesinnt war, sich bald darauf in ein Komplott mit unserem Könige Karl einließ, wovon aber König Friedrich Wind bekam, ehe er etwas ausrichten konnte. Wir waren genötigt, aus Sizilien zu fliehen, wie ich eben Hoffnung hatte, die vornehmste Dame auf der ganzen Insel zu werden. Nachdem wir nun die wenigen Sachen, die wir in der Eile mitnehmen konnten, eingepackt hatten (ich nenne sie wenige, im Vergleich mit den vielen, die wir besaßen) und Landgüter und Paläste im Stiche ließen, suchten wir eine Zuflucht in diesem Lande, woselbst sich auch der König Karl so gnädig gegen uns bewies, dass er uns den Schaden und den Verlust zum Teil wenigstens ersetzte, den wir um seinetwillen erlitten, und uns Häuser und Güter hier gegeben hat, und meinem Mann, deinem Schwager, noch immer reichliche Einkünfte zuschanzt, wie du dich wirst überzeugen können. Und so lebe ich denn hier, und danke es unserem Herrn Gott, mein lieber Bruder, und nicht dir, dass ich dich einmal wiedersehe.“ Mit diesen Worten umarmte sie ihn von Neuem und küsste ihm unter zärtlichen Tränen die Stirne.
Andreuccio, dem sie diese Fabel, die sie auf der Stelle erdichtete, so zusammenhängend und so rund vom Maul weg erzählte, dass ihr nicht ein einziges Mal ein Wörtchen fehlte oder die Zunge anstieß, und er sich erinnerte, dass sein Vater wirklich einmal in Palermo gewesen war; der auch übrigens aus eigener Erfahrung wohl wusste, wie leicht die Jugend zur Liebe geneigt ist, und sich jetzt durch zärtliche Tränen, Umarmungen und Küsse noch mehr überreden ließ, alles, was sie sagte, für bare Münze zu nehmen, gab ihr, wie sie schwieg, zur Antwort: „Madonna, Ihr müsst mir‘s nicht übel nehmen, wenn ich mich wundere, denn in der Tat, entweder hat mein Vater – er mag am besten wissen, warum – niemals etwas von Euch erwähnt, oder wenn es geschehen ist, so ist wenigstens mir nichts davon bekannt geworden, und ich habe so wenig von Euch gewusst, als wenn Ihr gar nicht in der Welt wärt. Es ist mir aber um desto lieber, dass ich hier eine Schwester gefunden habe, da ich es am wenigsten vermutete, denn ich bin hier allein und fremd. Und in der Tat, ich wüsste keinen Mann von noch so hoher Stellung, dem Ihr nicht teuer sein müsstet, um so viel mehr mir, der ich nur ein bescheidener Handelsmann bin. Aber etwas muss ich doch bitten, mir zu erklären. Wie habt Ihr erfahren, dass ich hier bin?“
„Diesen Morgen“ – antwortete sie – „berichtete mir‘s eine arme Frau, die bisweilen zu mir kommt, weil sie bei unserem Vater (wie sie behauptet) einige Zeit in Palermo und in Perugia gewesen ist. Wenn ich nicht geglaubt hätte, dass es schicklicher wäre, dich zu mir zu bitten, als dass ich dich in einem fremden Hause aufsuchte, so wäre ich schon längst selbst zu dir gekommen.“
Nach diesen Worten fing sie an, sich genau und mit Namen nach allen seinen Verwandten zu erkundigen, worauf ihr Andreuccio treuherzig Bescheid gab, und nur desto williger alles glaubte, was er lieber nicht hätte glauben sollen. Da sie ziemlich lange geschwatzt hatten und die Hitze groß war, so ließ sie griechischen Wein und Süßigkeiten bringen und bewirtete ihn. Wie hierauf Andreuccio Abschied nehmen wollte, weil es Zeit war, zum Abendessen zu gehen, ließ sie es nicht zu, sondern stellte sich äußerst betrübt, indem sie ihm abermals um den Hals fiel: „Weh mir! Ich sehe leider wohl, wie wenig lieb du mich hast. Denn anstatt zu bedenken, dass du bei einer Schwester bist, die du noch nie gesehen hattest, und in ihrem Hause, wo du hättest einkehren sollen, so willst du sie lieber verlassen, um in einem Wirtshause zur Nacht zu essen. Du musst bei mir bleiben. Obwohl mein Mann zu meinem Leidwesen nicht daheim ist, will ich dich doch wohl bewirten, soweit es in meinen Kräften, die nur die Kräfte einer Frau sind, steht.“
Andreuccio wusste darauf nichts zu erwidern, als: „Ich liebe Euch so sehr, wie man eine Schwester lieben kann. Wenn ich aber nicht nach Hause komme, so wird man den ganzen Abend mit dem Essen auf mich warten, und das wäre doch unhöflich von mir.“
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