So eigneten also diesem Vogel Möglichkeiten, die Erde zu sehen und was auf ihr ist, wie sie keinem Menschen, nicht einmal einem Fliegen zuteilwerden. Nach Belieben konnte er über die höchsten Bergketten hingleiten, nach Belieben konnte er über den lieblichsten Tälern schweben. Nach Belieben konnte er sich auf irgendeinem Punkt niederlassen und die Dinge ganz in der Nähe betrachten. An einem einzigen Tag konnte dieser eine Adler die größten landschaftlichen Schönheiten der Welt geschaut haben – das höchste Gebirge, die abwechslungsreichsten Wälder, dicht bevölkerte Niederungen ebenso wie kahle und weite Ebenen, Völkerschaften, Tiere, Vögel, Insekten, Bäume, Blumen, alles von der mannigfaltigsten Art. An einem Tag und im gewohnten Verlauf seines Kreisens und Schwebens mochte er gesehen haben, was Menschen vom anderen Ende der Welt zu schauen kommen, befriedigt, wenn sie nur den hundertsten Teil dessen erblicken, was der Adler alle Tage sehen kann.
Von seinem Berghorst im oberen Sikkim mochte er gesehen haben, wie im Morgenrot die Schneegipfel des Kantschindschanga aufglühten und in weiter Ferne der Mount Everest. Im Aufsteigen mochte der Adler dann über die volkreichen Ebenen Indiens hinausgeschaut haben und die Ströme erblicken, die wie Silberstraßen vom Himalaja hinabfließen, um weit in der Ferne sich mit dem Ganges zu vereinigen, der mächtigen Mutter. Dann mochte sein Auge über die endlosen Wälder hin schweifen, die die Ebene am Fuß der Berge, von Nepal bis Bhutan und Assam, wie in einen dichten, grünen Mantel hüllen und die von der Ebene aus sich über die Berghänge hin aufwärts nach der Höhe zu ausbreiten und bis dicht an die Grenze des ewigen Schnees reichen. Über diese ungeheuren Wälder mit ihrem Reichtum an Bäumen und anderen Pflanzen, an Tier- und Insektenleben von tropischer, gemäßigter und alpiner Art mochte der Adler schweben und dann, wenn er die Wasserscheide des Himalajas überflog, auf die baumlose, offene, wellige, fast unbewohnte Ebene von Tibet hinausschauen und in der Ferne den gewaltigen Brahmaputra erblicken, der nach einem Lauf rund um Bhutan herum den Himalaja scharf durchbricht und, sich nach Westen wendend, ebenfalls in den Ganges mündet.
In der ganzen Welt ist kein wundervolleres Natur- und Landschaftsbild zu finden. Unser Adler könnte dies alles ohne sonderliche Anstrengung in einem einzigen Tag sehen, mit einer Schärfe und Deutlichkeit, wie es kein Mensch vermag. Aber wie scharf auch sein Auge sein und wie weit es reichen mag, in diesem ganzen so herrlichen Gebiet würde der Adler nicht eine einzige Schönheit erblicken. Weder im Sonnenaufgang noch in den schneebedeckten Bergen noch im üppigen Tropenwald, nicht in den Blumen, den Vögeln, den Schmetterlingen, nicht in den Menschen und Tieren, und auch nicht in den Sturzbächen und Abgründen würde der Adler irgendwelche Schönheit sehen. Für ihn wäre das Gebirge nichts als ein Umriss, die Wälder wären ein grüner Fleck, die Ströme weiße Striche und die Tiere nur eben Einzelheiten seiner Nahrung. Viel würde der Adler erblicken, aber die Schönheit würde er nicht schauen.
Vielleicht werden wir verstehen, wie es kommt, dass der Adler bei so unbegrenzten Möglichkeiten keine Schönheit wahrnimmt, wenn wir ein Mücklein betrachten, das den Körper eines Menschen umschwirrt. Die Mücke steht ungefähr im selben Größenverhältnis zum menschlichen Körper wie der Adler zum Körper der Erde. Sie erblickt bei ihrem Schwirren unendliche Strecken des menschlichen Körpers; sie sieht die Gesichtszüge, die Nase, das Auge, den Mund; sie sieht den Rumpf und die Glieder und das Haupt. Aber selbst im schönsten aller Menschen würde sie keine Schönheit erkennen. Sie würde sie darum nicht erkennen, weil sie keine Seele hätte, um den seelischen Ausdruck zu deuten. Sie könnte die Züge des Menschen umschwirren, wenn gerade das Lächeln auf seinen Lippen, das Leuchten der Begeisterung in seinen Augen den höchsten Aufschwung der Seele kündete, aber die Mücke sähe in jenen Zügen keine Schönheit, weil sie die Seele nicht hätte, um sich in die Menschenseele einzufühlen und den Ausdruck auf dem Menschenantlitz zu erfassen. All die kleinen Schattierungen und Abstufungen, das Hell und Dunkel in den Zügen des Menschen wären für die Mücke völlig ohne Sinn, weil sie nichts von seiner Seele wüsste, von der die Gesichtszüge und ihr wechselvolles Spiel nach außen Kunde geben. Die Mücke wüsste nichts von der Wirklichkeit, die hinter der Erscheinung des Menschen verborgen liegt.
Der Adler verhält sich gegenüber den charakteristischen Zügen der Natur genauso wie die Mücke gegenüber den Gesichtszügen des Menschen. Er sieht nur die leere äußere Erscheinung der Natur und er erkennt nicht den Sinn in ihren Zügen. Er hat keine Seele, die mit der ihren sich berühren und die so verstehen könnte, was in ihren Zügen zum Ausdruck kommt. Für ihn ist das zarte Hell und Dunkel, der leichte Ausdruckswechsel auf ihrem Antlitz ohne Sinn. Er sieht nur die Erscheinung und erkennt nichts von der Wirklichkeit dahinter. Er hat keine Seele, die sich mit der Naturseele zu vereinigen vermöchte. Darum sieht er keine Schönheit.
Nun aber angenommen, es befände sich zufällig unter all den Mücken, die einen Menschen umschwirren, eine Mücke von ganz besonders feinfühligem Wesen, eine Mücke, die zwischen sich selbst und dem Menschen eine grundlegende Lebensübereinstimmung, eine Gleichartigkeit des Fühlens, des Gemütslebens und des Strebens zu erkennen vermöchte und die durch das Erkennen des Gleichartigen in ihnen beiden dem innersten Sinn und Wesen des Menschen nahezukommen imstande wäre: Dann wäre eine solche Mücke imstande, den wechselnden Ausdruck des Menschenantlitzes zu erfassen und beim Erfassen dieses Ausdrucks auch seine Schönheit zu sehen.
Von einem Adler dürfen wir nicht erwarten, eine genügend empfindliche Seele zu haben, die es ihm ermöglichte, sich in die Seele der Natur hineinzufühlen, die Natur zu begreifen und ihre Schönheit zu schauen. Aber was vom Adler nicht zu erwarten ist, das dürfen wir vom Menschen erwarten. Wir können erwarten, dass ein Künstler erscheint, der für die Erde das sein wird, was die Künstlermücke für den Menschen war.
Der Mensch vermag sich einigermaßen in die Seele der Natur einzufühlen. Etwas Verständnis hat er für die Natur. Er erkennt Schönheit, und sooft er sie in der Natur erblickt, hat er Berührung mit der Seele der Natur. Selbst Durchschnittsmenschen sehen einiges von der Schönheit der Natur und haben ein Gefühl von Verwandtschaft mit ihr. Ihre Seele hat etwas mit der Naturseele gemein. Sie empfinden zwischen sich selbst und der Natur mehr Gemeinsames, als dies eine Mücke in Hinsicht auf einen Menschen vermag.
Dieses Gefühl einer Verwandtschaft mit der Natur ist in einem Menschen von der feinen Empfindlichkeit des Künstlers – des Malers, Dichters oder Musikers – hoch entwickelt. Er nimmt der Natur gegenüber eine ähnliche Stellung ein wie jene feinfühlige und höher entwickelte Künstlermücke dem Menschen gegenüber, jene Mücke, deren Verstehen des innersten Wesens des Menschen und seines Charakters ihr seine Züge erkennen und seine Schönheit schauen ließ.
Was uns Durchschnittsmenschen obliegt, was wir vor allem von solchen verlangen möchten, die mit besonders feinfühliger Seele begabt sind, ist: sich vor Augen zu halten, welche Schwierigkeiten für die Mücke bestehen, uns zu begreifen und irgendeine Schönheit in uns zu sehen – wie jene ihre Fähigkeiten schulen und pflegen müsste, ehe sie jemals hoffen könnte, den Ausdruck unserer Züge zu erfassen; dies im Auge zu behalten und dann uns selber in die Hand zu nehmen und die Seele in uns zu entwickeln, bis sie reif genug und groß genug ist, sich in die große Seele der Natur zu versenken.
Der Schönheitssinn, den wir alle in einem, wenn auch geringen Maß besitzen, ist an sich schon ein Beweis für eine geistige Wirklichkeit, die hinter der äußeren Erscheinung der Natur sich erhebt – ein »Ich« –, ebenso wie hinter der äußeren Erscheinung des Menschen, wie sie der Künstlermücke erschien, das Ich dieses Menschen stand. Und indem wir diesen Sinn pflegen, indem wir also unsere Befähigung entwickeln, tiefer in das Herz der Natur zu schauen, mehr Sinn und vertiefte Bedeutung in jeder Schattierung ihres wechselnden Mienenspiels zu erkennen, verständnisvoller zu lesen, was in der Tiefe ihrer Seele vorgeht, werden wir uns in den Stand setzen, die Schönheit der Natur voller und reicher zu schauen.
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