Nach einigen Wochen der Drohungen und Versprechungen erklärte sich Mutter schließlich bereit, für mich eine Schule wie Sayre zu suchen. Meine Vorgeschichte war ein Problem – nicht nur die Ausschlüsse, auch meine Noten, die gerade mal befriedigend und ausreichend waren, obwohl ich ein Stipendium für Sayre bekommen hatte. Und wir hatten kein Geld. Meine Mutter besprach die Lage mit Grandma Linda. Sie suchten ein wenig und fanden schließlich ein gemischtes Internat in Delaware, das mich akzeptierte. Großmutter gab meiner Mutter einen Großteil des Schulgelds.
Sanford Preparatory School lag etwa achtzig Meilen nordwestlich von Wilmington inmitten von 50 Hektar Feldern und bewaldeten Hügeln. Die meisten der auf sechs Klassen verteilten 165 Schüler wohnten dort. Es gab sechs kleine, nach Geschlechtern getrennte Wohnheime. Einige davon waren umgebaute Farmgebäude, die anderen eine neu errichtete Art von Barracken. Die Klassenzimmer befanden sich in früheren Farmhäusern, und es gab eine moderne Bücherei mit großen Fensterscheiben, die das Innere besonders an Schneetagen behaglich machten. Die Schule hatte ein nagelneues »Fieldhouse« (Sporthalle) sowie Tennisplätze und Felder für Hockey, Baseball, Football und Lacrosse und sogar einen kleinen Stall. Die Jungen trugen Sportsakkos – wahlweise Schulblazer – und Krawatten, und die Mädchen Kniestrümpfe und Schottenröcke und über ihre weißen Baumwollblusen Blazer oder Strickjacken.
Die Umgebung ähnelte der in Sayre. Meine Arbeitseinstellung änderte sich nicht. Schon im Februar bekam ich mit einer Fünf in Mathematik, einer Vier in Spanisch und einer Drei in Englisch eine Bewährungsfrist. Ich hielt die schlechten Noten für ein Problem, aber nicht für ein großes – so war es bereits seit der siebten Klasse. Allerdings ging die Leichtigkeit des Lebens ein wenig verloren. Meine Rolle an der Schule war die des Skeptikers, Unruhestifters und Spaßvogels, der Typ, der nichts ernst nahm und verbotene Abenteuer suchte. Das kam dem ziemlich nahe, wie ich mich sah, aber ich wollte aus dem Rahmen ausbrechen, was das Ausbrechen aus dem Rahmen des Rahmens einschloss.
Eines Nachts im Frühling schlichen ein Freund und ich aus dem Wohnheim, brachen in die Schulklinik ein und stahlen aus einem großen Gefäß etwa zwei Liter kodeinhaltigen Hustensaft mit Kirschgeschmack. Davon trank ich am folgenden Morgen einen Plastikbecher, blödelte in der Klasse herum und nickte irgendwann, den Kopf auf den Armen, ein.

Wir stahlen aus einem großen Gefäß etwa zwei Liter kodeinhaltigen Hustensaft mit Kirschgeschmack.
© mit freundlicher Genehmigung von Richard Meyers
Aftermath von den Rolling Stones, die wir im Zimmer eines Mitschülers hörten, verbinde ich mit Regenwetter. »Stupid Girl«, »Under My Thumb«, »I Am Waiting«. Die Platte war so wild und grell und voller Persönlichkeit. Die Rolling Stones ließen sich auch gute Titel einfallen. Aftermath . Wer hätte gedacht, dass dieses Wort an eine Bluttat erinnert und das Gefühl einer Lawine auslöst? Es scheint ein unschuldiges Wort zu sein, aber nein – isoliert ist es unheilvoll, und es geht nicht um Erwartung, sondern um die Vollendung von etwas Schrecklichem wie einem schweren Verbrechen oder einem anderen Desaster. Es geht um Massentötungen und furchtbare Täuschungen, die Folgen haben.
An die Mythologie von Rock’n’Roll-Bands glaubte ich jedoch nicht. Die Musik war nur ein ganz gewöhnlicher Bestandteil meiner Umgebung. Ich war kein »Fan«. Der Stil einiger Gruppen war aufregend, aber die Musiker waren Leute, die es nur zufällig in die Musik verschlagen hatte. (Ich sehe es noch immer so, wenn eine Band am Anfang steht.) Die halbe Schönheit von Rock’n’Roll besteht darin, dass »jeder es tun kann«, das heißt, man muss kein Virtuose, sondern einfach angesteckt sein und einen unschuldigen Instinkt und viel Glück haben. Deshalb ist es die Kunst von Teenagern. Für mich hatten Bands nichts Ehrfurcht Einflößendes oder auch nur besonders Interessantes. (Erst seitdem ich eine Menge direkter Kontakte mit Popmusikern hatte, kam ich zu der Ansicht, dass sie tatsächlich ein bestimmter Menschenschlag sind, oder genauer gesagt, geworden sind. Ich bin noch heute nicht empfänglich für ihre Anziehungskraft. »Heiliges Monster« ist genau die richtige Beschreibung, zumindest für den Frontmann, den Sänger in einer Band. Um ein Popstar, ein Leadsänger zu sein, braucht man die unzerstörbare Gewissheit seiner eigenen Unwiderstehlichkeit. Das ist der Monsterpart. Wenn dieses Ichvertrauen nicht natürlich rüberkommt, wenn sich deine Existenz nicht ausschließlich darum dreht, dieses Ego in Szene zu setzen, hast du nicht das, was nötig ist, um deinem Publikum die Show, die Erregung zu geben, die es braucht. Das verlangt das Publikum von dem Performer, um sich mit ihm zu identifizieren, um sich selbst das Gefühl für seine eigene Macht zu geben, um die volle Wirkung und den Zweck von Rock’n’Roll zu spüren. Die Neulinge beginnen naiv und geradezu süß, werden aber auf dem Weg zum Ruhm gemästet und getestet, bis es in jeder Dimension grotesk wird außer der der Performance, die mitreißend und erhebend ist. Und das ist der heilige Part. Meistens ist es auch ein monströser Stress für die Adepten. Das ist nicht wirklich ein wünschenswertes Schicksal. Und ein weiterer Grund dafür, dass die Stars so launenhaft sind. Sie hassen alle dafür, sie zu dem gemacht zu haben, was sie sind, und reiben es jedem unter die Nase.)
Im Sommer 1966, nach meinem ersten Jahr in Sanford, wurde ich für meine schlechten Leistungen damit bestraft, dass ich zu Mama Doll, der Mutter meiner Mutter, nach Sherman (Texas) geschickt wurde, wo sie als Angestellte auf einer Luftwaffenbasis arbeitete. Ich musste die Wüstentage vor einer Tankstelle auf einem Ölkanister sitzend verbringen und auf Kunden warten. Mehrmals in der Woche hatte ich Nachhilfestunden in Spanisch. Ich war so verknallt in meine junge Spanischlehrerin, dass es schmerzte. Darüber hinaus litt ich an Hämorrhoiden; allerdings wusste ich nicht, was es war. Schon der Klang des Wortes deutete darauf hin, dass es etwas Hässliches sein musste, aber da es mir zu peinlich war, jemanden zu fragen, versuchte ich schließlich, das Ding in dem schmutzigen Badezimmer des vollgemüllten, dunklen, alten Hauses, wo Mama Doll mit ihrem geliebten Sittich lebte, mit einer Rasierklinge wegzuschneiden.
Als ich im Herbst nach Sanford zurückkehrte, hatte das Magazin Life auch ins Hinterland Geschichten über langhaarige Kids mit ihren Blumen, Perlenketten und psychedelischen Drogen gebracht. Eine einfache Beatles-Frisur war im ländlichen Delaware noch etwas Extremistisches. Ein- oder zweimal wurde gemunkelt, Studenten hätten auf dem Campus einen Joint geraucht, aber das waren dubiose Gerüchte. Das meiste, was wir über Drogen wussten, kam immer noch von den Beatschriftstellern. Ihr Drogenkonsum erschien uns exotisch und sexy, und doch war ihre Jazz, Lyrik und Zen liebende Partywelt schon so weit vorgedrungen, dass eine ganze Klasse von Leuten, die ich kannte, mehr oder weniger in ihr lebte. Diese Verwässerung unterminierte die Ernsthaftigkeit des Ganzen. Ich konnte mich nicht rückhaltlos für die Beatschriftsteller begeistern, weil es an der Schule diese allgegenwärtige Jugendgruppe gab, die Kopien von Alan Ginsbergs Langgedicht Howl schon für ein geheimes Zeichen hielt, und damit wollte ich nichts zu tun haben. Ich misstraute auch dem dogmatischen Beharren auf Spontaneität. Ich werde spontan sein, wenn mir danach ist.
Drogen allerdings gefielen mir. Sie boten einen sofortigen Fluchtweg, und ich mochte die physischen Freuden, die die Rauschgifte, dann die psychedelischen Drogen und später die Stimulantien bereiteten. Ich konsumierte nie große Mengen, begann aber relativ früh. Ich war der erste, der das überhaupt tat. Viele Drogen nahm ich in Sanford im ersten Monat der zwölften Klasse.
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