Fotos von mir als Zehn- oder Elfjährigem: ein flaches, ausdrucksloses, verschmiertes Gesicht. Es gibt ein Panorama oder eine Montage von Aussichten auf die Umgebung, die leeren Hügel der Vorstadt, alles still und weich und kalt, mit grober Körnigkeit. Ich fahre auf meinem Rad durch die neu gebauten Straßen, allein, niemand sonst in Sicht. Oder ich sitze im Garten hinterm Haus, werde plötzlich meiner selbst bewusst oder gewahr, dass dieser Augenblick sich irgendwann wiederholen und meinen Zustand und die Umgebung abbilden wird.
Es war vermutlich in der sechsten Klasse, als ich zur Hochform auflief. Ich war ein Goldjunge ohne Arroganz. Meine Lehrerin in jenem Jahr, Mrs. Vicars, traf eine Vereinbarung mit mir, die es mir erlaubte, anstatt der üblichen Hausaufgaben Geschichten zu schreiben.
In der siebten Klasse jedoch stürzte ich ab, und es dauerte Jahre, bis ich es wieder nach oben schaffte. Die Babyboomer der Nachkriegszeit hatten das Schulsystem von Lexington eingeholt. Die Schulen waren so überfüllt, dass eine alte große Bruchbude im Stadtzentrum für die Nutzung von Hunderten und Aberhunderten Siebtklässlern aus der ganzen Stadt in Beschlag genommen wurde. In dieser großen Schule mit unbekannten Kindern meines Alters verlor ich jede Vorgeschichte und jedes Ansehen, das ich vorher hatte. Ich war ein Nobody, und bei meinem mangelnden Selbstbewusstsein war es unmöglich, aufzuholen. Alles, woran ich mich aus jenem Schuljahr erinnere, ist Angst und Traurigkeit, verbunden mit qualvollem Neid auf die erfolgreichen Rednecks: der dominierende, reife Gary Leach mit den bis zum Bizeps aufgerollten Ärmeln, eng anliegenden Jeans, kurzem, in präzisen Strähnen gelegtem Haar, der im Schulbus hinter mir der lieblich schluchzenden Susan Atkinson zuflüsterte: »Bei mir kannst du dich ausweinen«; der toughe, schneidige Jimmy Gill, der mit seinen abgebrochen Vorderzähnen Jerry Lee Lewis ähnelte; oder der muskulöse, selbstsichere Farmersohn Hargus Montgomery.
Es gab im letzten Moment eine aussöhnende Erfahrung. Da ich traumatisiert war und mich nichts dazu bringen konnte, irgendwelche Hausaufgaben zu machen, waren meine Noten, die ich mühelos mit Auszeichnung erworben hatte, auf befriedigend, ausreichend und schließlich ungenügend abgerutscht. Noten maß ich keine große Bedeutung bei, aber auf einmal empfand ich es als kränkend, so zu versagen. Doch als uns Ende des Jahres standardisierte »Leistungstests« gegeben wurden, erzielte ich die höchste Punktezahl in der ganzen Schule. Man hätte mir das normalerweise nicht mitgeteilt, aber die Leitung glaubte, mit mir darüber reden zu müssen. Danach bemerkte ich, dass sich die Lehrer mir gegenüber anders verhielten. Ich bekam so etwas wie Glamour. Sie blieben stehen und schauten mich an, wenn ich vorbeiging.
Die Jahre auf der Junior High School – von der siebten bis zur neunten Klasse – waren furchtbar. Wegen der Überbelegung besuchte ich jedes Jahr eine andere Schule mit immer wechselnden, unbekannten Klassenkameraden. Ich hasste Hausaufgaben. Ich litt auch unter Schlaflosigkeit, weil ich immer daran denken musste, nicht vorbereitet und ein Versager zu sein. Alles in der Schule missfiel mir. Selbst wichtige Schularbeiten schob ich bis zum Vorabend der Abgabe hinaus, und dann saß ich schwitzend in meinem Zimmer unterm Dach vor irgendwelchen Texten, die ich paraphrasierte, um einen Aufsatz zusammenzuschustern und aufzupeppen. Ich litt an Schlaflosigkeit, als wäre ich in eine Falle geraten, gelähmt vom Scheinwerferlicht. Ich wusste, es war meine Angst vor dem schlechten Abschneiden und dem Ansehensverlust, die mich wachhielt. Und doch konnte ich mich nicht dazu zwingen, die blöden Hausaufgaben zu machen, und ich fand auch nicht wirklich heraus, was eigentlich los war. Und all das verstärkte sich gegenseitig in meinem Kopf. Es war wie ein ständiges Kribbeln auf der Haut. Als gäbe es eine Droge, die ich dringend brauchte, aber nicht hatte.
Sobald ich meiner selbst bewusst wurde, begann ich die rohe Unterdrückung zu hassen, der man als Kind ausgesetzt war. Ich mag normalerweise keine »Alpha«-Leute, und in den willkürlichen geschlossenen Gemeinschaften von Schulen hat man es ständig mit ihnen zu tun. Ich konnte es einfach nicht ausstehen, mit Fremden zusammengepfercht zu sein. Basta. Auch missfiel mir, gesagt zu bekommen, was ich tun sollte, und natürlich geht es in der Schule und in der Kindheit um die Autorität der Erwachsenen. Ich wusste so gut wie jeder von ihnen, was lohnenswert war, aber weil ich ein Kind war und sie größer waren und mehr Macht hatten als ich, wurde ich betrogen.
Ich erinnere mich, dass ich noch als Kind meinem erwachsenen Selbst ein Versprechen abverlangte. Ich gelobte, nicht zu vergessen, wie willkürlich und unfair die Regeln der Erwachsenen sind. Ich gelobte, den Prinzipien treu zu bleiben, die, wie ich bald begriff, die Erwachsenen manchmal vorgaben zu kennen, aber an die sie sich kaum hielten.
Ich wollte ein Leben voller Abenteuer haben. Ich wollte nicht, dass mir irgendjemand sagte, was ich zu tun hatte. Ich wusste, dass dies das Wichtigste war und dass alles verloren wäre, wenn ich mich verlogen verhielte, so wie es die Erwachsenen taten.
Die monströsen, kastenförmigen, breitschnäuzigen, eigelbfarbenen Schulbusse mit ihrer schwarzen Beschriftung waren für mich Symbole der Einsamkeit und Demütigung. Sie rollten durch graues und regnerisches Wetter, und ich starrte aus dem Fenster in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden außer von einem ganz besonderen Mädchen.
Vor einiger Zeit saß im Kino ein hübsches Mädchen vor meiner Frau und mir, und alles, was ich von ihr sehen konnte, war ihr Haar. Als ich in der Grundschule im Klassenzimmer hinter Mädchen saß, konnte ihr Haar mich zum Wahnsinn treiben. Es war nicht einmal wirklich lebendig, aber ergreifender als die Gesichter der meisten Menschen wegen der Intimität, mit der es mit seiner Trägerin in Verbindung stand. Es war unerreichbar, während es direkt vor mir war, völlig entblößt, mit all seinen unkontrollierten, wilden Implikationen und Botschaften seiner Pflege, und ich empfand es als herzzerreißend, dass seine Besitzerin nichts von seiner Wirkung ahnte. Es war, als beobachtete man heimlich einen schlafenden Menschen.
In der dritten Klasse war ich verrückt nach Mimi McClellan. Wenn ich versuche, mir ein Bild von ihr zu machen, so ist da kein Gesicht. Nur ihr hoch toupiertes dunkelblondes Haar. Aber wenn ich es mir überlege, dann gab es damals niemanden, der in dem Alter die Haare toupierte. Es war das Jahr 1958, auch die Frauen trugen noch nicht eine solche Frisur, bis zwei oder drei Jahre später Jackie Kennedy ihren Auftritt hatte. Nachts lag ich in meinem Bett, dachte an Mimi McClellan und phantasierte, ich würde von einem Auto angefahren, so dass sie meine Hand nehmen würde und ich ihr sagen könnte, dass ich sie liebe.
In der sechsten Klasse war es Janet Adelstein. Es ist wahrscheinlich Janets Haar, das ich Mimi zuschrieb. Denn Janet hatte eine von Haarspray konservierte, dunkelblonde Hochfrisur, von der ein seidiger, wohlduftender Hauch ausging.
Die jungen Mädchen trugen weiße Baumwollblusen mit Ringelkragen, Strickjacken und Hosenröcke. Vielleicht noch eine zierliche Halskette aus Gold, Tennisschuhe oder Bass Slipper und Söckchen. Viele der Mädchen in der Klasse hatten schon Brüste. Janets Brüste waren größer als die der meisten anderen.

Verrückt nach Mimi McClellan.
© by Richard Meyers, mit freundlicher Genehmigung der Fales Library and Special Collections, New York University Libraries
Ich offenbarte ihr nie meine Gefühle für sie. Jahre später trafen wir uns irgendwo zufällig, unterhielten uns, und es stellte sich heraus, dass auch sie damals in mich verknallt war. Irgendwie tragisch, geradezu Shakespearhaft.
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