Damit die Herrschaftsausübung durch die Trennung in Gut und Böse oder eben Gott und Drache (oder Teufel) funktioniert, müssen diese übermächtigen Wesen als lebendige Wirklichkeit begriffen werden. Als Symbole oder lediglich Metaphern erlangen diese Figuren kaum Macht über die Menschen, sondern regen eher zur geistigen Auseinandersetzung an. Erst als lebendig begriffene, bewusst erfahrene Lebewesen können Gott und Drache ihre kulturelle Wirksamkeit entfalten. Würde man also den Menschen beispielsweise im alten Babylon die heute so beliebte Frage stellen, ob es Drachen wirklich gibt, so wäre die absolut ehrliche Antwort ›selbstverständlich‹. Im Grunde gibt es selbst heute viele Menschen, für die im gleichen Selbstverständnis beispielsweise auch das Böse, der Teufel, ganz real existiert.
Das Geheimnis der alten Schlange
Die Frage, was ein Drache zumindest im frühgeschichtlichen Zusammenhang ist, konnte zunächst mit dem Kampf zwischen der chaotischen Natur und dem kulturschaffenden, dem seine Umwelt formenden Menschen, beantwortet werden. Aber es ist eben nur eine Antwort, die sich aus der Betrachtung des vorderasiatischen Drachen ergeben hat. Seit dem Mittelalter orientierte sich die westliche Forschung an der Heiligen Schrift. Die Bibel war neben den Überlieferungen der griechischen klassischen Antike die archäologische Landkarte der Forscher des 19. und teilweise auch des 20. Jahrhunderts. Nach Babylon oder anderen vorderasiatischen Städten suchte man nicht primär wegen ihrer eigenständigen kulturellen Bedeutung, sondern als Teil der biblischen Geschichte. Auch das Enûma elîsch war weniger als Dokument zum Verständnis der babylonisch-sumerischen Kultur und Kulturgeschichte interessant, sondern als Grundlage der Diskussion über die Ursprünge der biblischen Schöpfungsgeschichte und Gottesvorstellung. Noch heute findet man Abhandlungen über den vorderasiatischen Drachen vor allem in Büchern oder auf Internetseiten zur Bibelforschung. Und bei genauerer Betrachtung ist es auch das geistige Koordinatensystem der Bibel 9, das den Drachen im westlichen Verständnis als zerstörerisch und böse erscheinen lässt.
Erst in den letzten Jahrzehnten hat hinsichtlich des historischen Wertes der Bibel ein Umdenken in der westlichen Archäologie stattgefunden. Dazu haben nicht nur bessere Datierungs-, Erkundungs- und Untersuchungsverfahren beigetragen, die viele aus der Bibel heraus begründete Fundinterpretationen unhaltbar gemacht haben. 10Auch überraschende Funde außerhalb der klassischen Region der biblischen Archäologie, in Mesopotamien, der Levante und Ägypten, zwangen insgesamt zu ganz neuen Überlegungen hinsichtlich der Bewertung kulturgeschichtlicher Prozesse. Und losgelöst vom Fokus auf die biblische Archäologie gelangt auch die Drachenforschung zu neuen Ansatzpunkten und Erkenntnissen.
Auf den vorderasiatischen Abbildungen, die vor allem von Rollsiegeln bekannt sind, sind die chaotischen Gegner der jeweiligen siegreichen Wettergötter überwiegend als Schlangen dargestellt. Es finden sich aber auch sogenannte Schlangenhalsdrachen mit vierbeinigen Körpern oder vierbeinige Löwenkopfdrachen mit Schlangenkörper.
Sumerisches Rollsiegel mit löwenköpfigen Schlangenhalsdrachen, Uruk 4100 bis 3000 vor Chr.
Die Schlange, so scheint es, ist aus dem Bild, das sich die Menschen vom Drachen machten, nicht wegzudenken. 12Aber auch Elemente von anderen Tieren finden sich unter den Drachendarstellungen, deren spektakulärste im vorderasiatischen Raum zweifellos am babylonischen Ishtartor prangt.
Ishtardrache, der babylonische Drache auf der Originalmauer Babylons.
Die Rekonstruktion des im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung errichteten Tores ist heute im Berliner Pergamonmuseum zu bewundern. Der Drache, der dort als farbiges Mosaik aus glasierten Kacheln an der blauen Stadtmauer entlangstreift, lässt sich gut beschreiben: Das Haupt des schlangenartigen geschuppten Körpers ist einem mit Hörnern bewehrten Krokodilskopf entlehnt. Der Schwanz mündet in einen Skorpionstachel. Die Vorderfüße bilden kräftige Löwentatzen, die Hinterbeine laufen in den Krallen eines mächtigen Adlers aus. Nur Flügel sucht man vergeblich.
Eine wilde Mischung aus verschiedenen realen Tieren ist übrigens auch der ebenfalls flügellose chinesische Drache. Er vereint seit der Han-Zeit im 2. Jahrhundert nach Chr. die Attribute von neun verschiedenen Tieren: Hirsch, Kamel, Rind, Dämon (!), Schlange, Karpfen, Adler, Tiger und Seeungeheuer.
Die Entwicklung des chinesischen Drachen lässt sich relativ plausibel nachvollziehen. Die ersten Zeugnisse von Drachendarstellungen in China stammen etwa aus dem 4. Jahrtausend vor Chr. Vermutlich stehen sie hier in einem älteren totemistischen Zusammenhang und hatten unter anderem die Funktion von Schutzgottheiten im Rahmen einer Stammeskultur. Anfangs überwiegen Darstellungen von Totemtieren, wie Hirsche, Fische, Schlangen und andere, die sich beispielsweise eingraviert in Steinstelen finden. Im Laufe der Zeit und im Rahmen von Stammeszusammenschlüssen und Unterwerfungen, so die Theorie 12, wurden die verschiedenen Totemtiere miteinander vereint, bis schließlich der chinesische Drache etwa im 2. vorchristlichen Jahrtausend begann, seine bis heute gültige Gestalt zu entwickeln. Aus dem 2. Jahrtausend vor Chr. stammen schließlich auch die markanten sogenannten Jinwen-Formen des chinesischen Schriftzeichens ›Drache‹ (Shang- und Zhou-Zeit, 16. bis 11. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung), die den Schlangencharakter des mächtigen Wesens herausstellen.
Der kurze Ausflug in die chinesische Drachenkultur ist nicht zufällig unternommen worden; hier findet man eine Drachentradition, die von biblisch-christlichen Einflüssen weitgehend unberührt ist und somit bei der Suche nach der ursprünglichen vorderasiatischen Drachenkultur helfen kann. Und so kehren wir wieder zurück nach Vorderasien und gehen der Frage nach, ob sich auch hier eine totemistische Vorgeschichte des Drachen nachweisen lässt. Lange Zeit gab es für diese Möglichkeit keine wirklichen archäologischen Indizien. Lediglich die Darstellung des Ishtartor-Drachen in Babylon als aus verschiedenen realen Tieren zusammengesetztes Wesen deutet darauf hin. 1994 jedoch erkannte der Archäologe Klaus Schmidt die außergewöhnliche Bedeutung von Göbekli Tepe, nahe der Stadt Urfa im Südosten der Türkei. Göbekli Tepe kannte man bereits seit Anfang der 1960er Jahre als archäologische Stätte. Dass es sich aber, wie Schmidt nahe legte, um eine der ersten monumentalen Kultstätten der Menschheit überhaupt handelt 13, ahnte damals niemand. Was die Archäologen dort ausgegraben und 2007/2008 als Vorabergebnis im Rahmen einer Ausstellung und mehrerer Publikationen der Öffentlichkeit präsentiert haben, ist nicht nur in Bezug auf die Kulturgeschichte des vorderasiatischen Drachen faszinierend. Die rund 12.000 Jahre alten Monumente entpuppten sich nämlich als gewaltige Kultanlage mit zahlreichen plastischen, reliefartigen und sehr realistischen Darstellungen von Tieren, mehr oder weniger abstrahierten Menschenfiguren und Mensch-Tier-Kombinationen. 14
Chinesischer Drache im kaiserlichen Sommerpalast in Peking. Deutlich erkennbar ist der zusammengesetzte Leib und, dadurch ausgedrückt, der komplexe Charakter des Drachen.
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