Die spannende Musik hört man in aller Regel in den Clubs, in den kleinen Hallen, auf charmanten, wenig kommerziellen Festivals. Das ist die lebendige Musikszene, in der das wahre musikalische Leben stattfindet. Die interessante Musik wird in aller Regel von kleinen, engagierten Labels veröffentlicht. Kaum eine gute Band würde existieren, wenn es nicht kleine Clubs und engagierte örtliche Veranstalter gäbe, die die Aufbauarbeit leisten, die mit viel Einsatz, Kreativität und nicht selten mit beträchtlichen finanziellen Verlusten diese Bands ihrem lokalen Publikum vorgestellt haben. Kaum eine gute Band ist ohne die Aufbauarbeit kleiner Labels denkbar. Diese kulturelle Leistung bringt die Kultur unserer Gesellschaft voran – nicht das Schielen nach Kommerz und Profit.
Doch die alternativen Kultureinrichtungen, die Clubs, Kleinlabels und Kulturzentren, sind durch eine »Quotenkultur« akut in ihrer Existenz gefährdet. Damit ist auch die Teilhabe der Menschen an der Kultur gefährdet. Wie aber können wir die kulturelle Vielfalt am Leben halten jenseits der Monopole und jenseits der profitbestimmten Quoten? Wenn einige wenige Musikkonsortien sich den Musikmarkt aufteilen und untereinander noch stark vernetzt sind, dann sind letztlich, so der niederländische Politologe Joost Smiers, »Demokratie und das menschliche Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben in Gefahr«. Es gibt Bereiche des Lebens, bei denen das öffentliche Interesse mehr zählt als bei Herstellung und Verkauf von Zahnpasta oder Unterwäsche. Wenn sich nur noch die Universals und die Live Nations dieser Erde um die Künstler kümmern, dann entsteht eine profitorientierte Monokultur, die durch ihre vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten die Konsumenten mit einem kulturellen Einheitsbrei füttert.
Die Manipulation der Menschen durch seichte Massenkultur dient letztlich der Regierbarkeit von Untertanen. Das ist keine Erfindung des Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts. Georg Knepler erklärt in seiner »Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts«, welche gesellschaftliche Aufgabe »die Schlammflut von seichter und schlechter Musik« im Kapitalismus von Anfang an hatte:
»Was waren die Versuche einzelner Musiker, was waren die Bemühungen von Vereinigungen, Verbindungen und Gesellschaften aller Art, die Schlammflut von seichter und schlechter Musik aufzuhalten, das musikalische Niveau der Massen zu heben, der Korruption und Heuchelei im Musikleben einen Riegel vorzuschieben – was waren diese Versuche gegenüber der unerbittlichen Gesetzmäßigkeit, mit der die kapitalistische Gesellschaft eben diese Übel täglich neu produzierte? Die zur Macht gelangte Großbourgeoisie hatte vor allem ein Interesse: an der Macht zu bleiben. (...) Es ist von unabsehbarer politischer Bedeutung, daß die kapitalistische Unterhaltungsmusik nicht realistisch war, sondern idealisierend, nicht aufrüttelnd, sondern besänftigend, nicht sammelnd, sondern zerstreuend, nicht konzentrierend, sondern ablenkend. (…) Je leichter die Ware, mit der der Musikhunger der Millionen zu befriedigen war, um so besser für die Verleger. Um so besser aber auch für die gesamte Klasse der Kapitalisten. Eine solche Musik half mit, die bestehenden Lebensverhältnisse als erträglich, ja, als ideal, jedenfalls aber als unabänderlich, als unveränderbar hinzustellen, und wurde auf diese Weise zu einem wichtigen Träger der Ideologie der herrschenden Klasse. Das ist das (…) entscheidende Merkmal, durch das sich die von Kapitalisten betriebene Tanz- und Unterhaltungsmusik von der früherer Epochen unterschied. Die kapitalistisch betriebene Tanz- und Unterhaltungsmusik brachte also doppelten Profit, so wie jede Ware, die auf den Markt geworfen wird; und – wichtiger noch – sie trug in ihrer Eigenschaft, als besondere, als ideologische Ware dazu bei, die ganze Gesellschaftsordnung mit ihrer Warenwirtschaft, ihrem Markt und ihrem Profit, mit ihrer Not und ihrem Elend, mit ihren Krisen und Kriegen, mit ihrer Oberflächlichkeit und Seichtheit zu festigen.« 7
Eine direkte Linie zieht sich von Metternichs Untertanenstaat des frühen 19. Jahrhunderts zu der von Medien- und Kulturmonopolen dominierten Musik unserer Tage. Knepler weist auf das doppeldeutige, entlarvende Wortspiel Fürst Metternichs hin, das auch heute noch als Motto gelten kann: »Das Volk soll sich nicht versammeln, es soll sich zerstreuen.« 8
Den Organisatoren der »Zerstreuung« wie Live Nation, Universal oder Warner geht es um eine Begradigung des kulturellen Angebots, um mit möglichst stromlinienförmigen »Produkten« (nicht umsonst heißen die Personen, die in den großen Plattenfirmen Alben bearbeiten, »Produktmanager«) möglichst leicht Profite machen zu können. Es gilt, das Publikum zu manipulieren und zu konditionieren. Es geht um Kontrolle. Es geht um »gated communities«. Man denke an Apple. Gilles Deleuze spricht von »Kontrollgesellschaften«: »Kontrolle ist der Name (...), um das neue Monster zu bezeichnen, in dem Foucault unsere nahe Zukunft erkennt (...), ultra-schnelle Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, die die alten – noch innerhalb der Dauer eines geschlossenen Systems operierenden – Disziplinierungen ersetzen«. 9
Man denke an die Castingshows im Fernsehen. Casting-Juroren wie Dieter Bohlen oder Heidi Klum betonen mit schöner Regelmäßigkeit, daß es um die »Persönlichkeit« der Kandidaten gehe. Tatsächlich aber »wird die Selbstentfaltung darauf eingeengt, was sich am besten verkaufen läßt. Bei Heidi Klum zum Beispiel ist immer der Kunde König, die Kandidatinnen sind nur dann professionell, wenn sie genau das machen, was der Kunde will«, erklärt der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler. Die Castingshows haben ihre Entsprechung im Alltag der Zuschauer. Die vorwiegend jungen Menschen, Schüler, Auszubildende, Studenten, kennen in ihrem Leben eine ähnliche Ohnmacht, aber auch eine ähnliche Verpflichtung wie die Kandidaten der Shows, zu funktionieren, sich unterzuordnen unter das Diktat des Konsums, des Marktes. »Diese Shows sind Schulen für Konformismus, ja sogar für Gehorsam«, stellt Gäbler fest. »Casting macht gehorsam.« 10
Wie aber kann ein künstlerisches Konzept von, sagen wir, Dissidenz und Melancholie vorangetrieben werden, das sich den Kontrollgesellschaften widersetzen würde, wenn die Kulturindustrie komplett gleichgeschaltet ist und von wenigen großen, multinational arbeitenden Konzernen dominiert wird? Die gezielt gegen jede Dissidenz, gegen »Untergrund«, gegen »Revolte« arbeiten?
Denn wir brauchen eine Kultur, die im Gegensatz zum Mainstream, im Gegensatz zum »modern talking« der Kulturindustrie Dissidenz ermöglicht, statt sie als Mode in die Verwertungslogik der Kulturindustrie aufzusaugen (wie zum Beispiel Punk oder Grunge). Ich bin überzeugt, daß große Musik seit über zweihundert Jahren im wesentlichen durch Dissidenz geprägt ist. Wobei Dissidenz kein leichtes Spiel ist, sondern in der Regel ein ausgesprochener Kraftakt. Bereits Mozart war in Habitus und Inhalt »dissident« gegenüber den herrschenden Zuständen. Man muß nun nicht in jede Oper Mozarts eine revolutionäre Haltung hineininterpretieren, aber ganz ohne Zweifel war Mozart der Aufklärung verpflichtet und in deutlicher Opposition zu kulturellen Systemen, wie sie der Salzburger Fürstbischof und die Kaiserin in Wien repräsentierten. Mozart wußte wie Beethoven, der »ein damaliger Linker« (so der Dirigent Michael Gielen) war, bestens über die Französische Revolution Bescheid und vertrat deren Forderungen. »Beethoven und Schubert erlebten in ihrem letzten Lebensjahrzehnt den Staat Metternichs, der eindeutig ein Polizeistaat war, und sie selbst standen durchaus unter Verdacht; nur die zweifache sprachliche Verschlüsselung ihrer Musik schützte sie. Schuberts Freundeskreis war ein Dissidentenkreis. Sie fühlten sich alle fremd im eigenen Land und in der Welt« (Jan Reichow). 11Dissidenz und Melancholie dürfte ein roter Faden der Musik sein seit Beethoven und Schubert, dessen »fremd bin ich eingezogen / fremd zieh ich wieder aus« aus der Winterreise ja durchaus nicht nur eine private Aussage ist – Einsamkeit meint hier wie bei Hank Williams (»I’m so lonesome I could cry«) eben keinen persönlichen, sondern einen durchaus gesellschaftlichen Topos, einen »Weltriß« (Heinrich Heine), mit dem der Künstler sich »gegen die Welt«, also auch »dissident« gegen gesellschaftliche Zustände definiert. Gustav Mahler war Dissident im künstlerischen wie im gesellschaftlichen Bereich. »Mahler stachelt die mit der Welt Einverstandenen zur Wut auf (…). Darum plädiert Mahlers Symphonik (…) gegen den Weltlauf« (Adorno). 12Oder Kafka: »... gleich seinem Landsmann Gustav Mahler hält Kafka es mit den Deserteuren« (Adorno). 13Selbst Verdi darf man nicht unterschätzen, in der Aida etwa geht es ja genau genommen um Krieg und Liebe und Kirche und Militär. Verdi war glühender Pazifist und hatte sicher seine Zweifel an den kolonialen Aspekten seines Kompositionsauftrags. Daß das zweite Finale in der Aida so schlechte Musik ist, kann nur inhaltlich begründet sein. »Es ist die wunderbarste Musik davor und danach, und das zweite Finale ist wirklich Kacke – diese Märsche und das Tschingbum. Das muß so sein! Die Vulgärmusik wird ausgestellt« (Michael Gielen). 14
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