»Weißt du Louise, ich bin sicher, sie wacht über dich als dein Schutzengel, dein guter Geist.«
»Es ist nicht nur, dass ich meine Freiheit behalten möchte. Die Verluste der Menschen, die ich so sehr geliebt habe, haben mich immer zutiefst erschüttert. Wenn ein Mann käme, den ich so sehr lieben könnte, bei dem ich wüsste, dass er mich so sein lässt wie ich bin, der mich schreiben lässt; wenn es einen solchen Mann gäbe, hätte ich immer noch Angst, mich an ihn zu binden. Ich fürchte, ich könnte einen solchen Verlust nicht noch einmal verkraften. Ich könnte es einfach nicht.«Die letzten Worte hatte sie kaum hörbar geflüstert.
Liebevoll fragte Caroline nun, ob Louise einen guten Freundeskreis in Meißen hatte, und sah glücklich, wie sich Louises Gesicht bei dieser Frage aufhellte. »Oh, ja! Ich habe viele Freundinnen und Freunde. Nicht nur in Meißen, sondern auch sehr liebe Verwandte in Leipzig, die ich gerne besuche. Nicht alle meine Freundinnen teilen meine Meinungen und Neigungen, aber mit den meisten kann ich mich über das unterhalten, was mich bewegt. Unser kleiner literarischer Zirkel, der ›Bienenkorb‹, ist immer eine schöne Abwechslung und ich stehe in Briefkontakt mit vielen Freundinnen, die nach der Schule aus Meißen fortgezogen sind.«
»Es freut mich sehr, dass du so viele Freundinnen und Bekannte hast.« Und leise fügte sie hinzu: »Auch wenn sie dir nicht die Menschen ersetzen können, die du schon verloren hast in deinem jungen Leben.«
»Gerade deswegen will ich dankbar sein für die, die ich habe. Man wird so unsicher und fragt sich manchmal, wie lange man eine gute Freundin, an die man sich eng anschließt, noch hat.«
Verrat brachte die Jungfrau in die Hände der Engländer. Gefesselt musste sie von den Zinnen aus mit ansehen, wie sich das Kriegsglück von den Franzosen abwandte. Als ein wichtiger Heerführer verwundet weggeführt wurde, riss die Jungfrau verzweifelt an ihren Ketten und schrie: »Und ich bin nichts als ein gefesselt Weib!« Caroline sah, wie sich Louises Hände in ihrem Schoß zu Fäusten ballten. Sie verstand ihre verstorbene Freundin nur zu gut. Louise wollte kämpfen, aber legte diese Zeit nicht allen Frauen Fesseln an? Louise war klug und hatte ein gutes Herz. Mit ihrem jugendlichen Elan wollte sie die Welt verändern, aber wann würde sie selbst einmal schreien »Und ich bin nichts als ein gefesselt Weib!«
Auf dem Heimweg wollte Louise durch eine der Gassen gehen, durch die sie auch ihr Hinweg geführt hatte, aber Caroline hielt sie zurück.
»Nein, Louise. Um diese Zeit wollen wir einen anderen Weg nehmen.«
»Wieso denn das? Schau, dort sind noch mehr Frauen unterwegs.«
Caroline atmete tief ein. »Das sind …«, begann sie langsam, »Frauen, die …« Konnte sie Louise wirklich diese Abgründe zumuten?, dachte Caroline. Ja, Louise musste es wissen. Es konnte nicht angehen, solche Dinge vor ihr zu verbergen. Leise fuhr sie fort: »Es sind Frauen, die sich selbst, ihren Körper verkaufen.«
Louise stand schreckensstarr. Sie hatte vage davon reden gehört, aber solchen Worten keinen Glauben geschenkt. Konnte eine Frau wirklich für Geld das Intimste mit einem Wildfremden teilen? Ihr Herz raste, wie in einem Bann starrte sie in die Straße, wo sich gerade ein Mann einer Frau näherte. Die beiden wechselten nur wenige Worte, dann stieß sich die Frau, die an der Hauswand gelehnt hatte, ab und folgte dem Mann. Louise schluchzte leise auf. Wie grauenhaft! Es war eine Sache, von solchen Ungeheuerlichkeiten zu hören und zu ahnen, dass es solche Frauen auch in Meißen gab. Aber hier in der Dunkelheit zu stehen und Zeugin eines solchen Grauens zu sein, das traf Louise wie ein Schlag. Caroline legte ihren Arm um Louises zitternde Schultern.
»Es sind die Ärmsten der Armen, Louise. Sie haben keine andere Wahl. Viele von ihnen haben Kinder zu Hause, die sie nur auf diese Weise vor dem Hungertod bewahren können. Sie tun es nicht aus Lust, sondern aus reiner Not. Wir können sie nicht verurteilen.«
Louise schwieg, aber Caroline sah, wie Louise wieder ihre Fäuste ballte. Nach einem tiefen Atemzug sagte Louise: »Du hast recht. Diese Frauen sind nicht zu verurteilen. Aber umso mehr die Umstände, die sie zu diesem Handeln zwingen. Wie kann eine Regierung zulassen, dass Frauen keine andere Wahl bleibt? Es muss einen Weg geben, diesen Frauen zu helfen. Ich meine nicht nur ein paar einzelnen, sondern allen. Niemand sollte gezwungen sein, sich selbst zu verkaufen. Oh Gott, ich bin so unendlich dankbar, dass ich diesem Schicksal nicht ausgeliefert bin. Alles könnte ich tun, alles, aber das …«
»Komm, Louise. Ich bringe dich nach Hause«, sagte Caroline sanft und zog sie mit sich fort. Bis sie am Haus der Tante angelangt waren, hatte sich Louise wieder so weit beruhigt, dass sie nicht mehr weinte.
Caroline schellte. »Erzähl Tante Therese besser nichts davon. Nicht, dass ich dich nicht mehr ausführen darf. Und morgen habe ich eine ganz besondere Überraschung für dich. Noch besser als Schillers Jungfrau.«
»Was denn?«, fragte Louise und schniefte ein letztes Mal.
»Wenn ich es dir jetzt schon erzähle, dann ist es keine Überraschung mehr. Aber ich verrate dir, dass du mit Sicherheit begeistert sein wirst.«
Da hörten sie die Schritte des Hausmädchens auf der Treppe, das ihnen die Tür öffnete.
»Gute Nacht, Louise.« Sie küsste sie auf beide Wangen, umarmte sie noch einmal herzlich. Louise schaute ihr kurz nach, hörte ihre klaren, festen Schritte auf dem Pflaster, dann ging sie ins Haus.
Der nächste Tag brachte tatsächlich eine sensationelle Überraschung: Louise stand zum ersten Mal in ihrem Leben an einem Bahnsteig. Um sie herum drängten sich die Menschen, die alle dieses Wunder bestaunen wollten. Eine Eisenbahn! Caroline hatte Mühe, ihren Schützling in der Menge nicht zu verlieren. Die Eisenbahn wurde jeden Moment erwartet. Louise wusste nicht, wie sie sich eine Eisenbahn vorstellen sollte. In der Zeitung hatte sie zwar schon ein Bild von einem Zug gesehen, aber wie war das in Wirklichkeit? Wie groß war eine Lokomotive? Ach, sie verwünschte wieder einmal ihre geringe Größe, die ihr nicht erlaubte, über die Menschen hinweg zu schauen. Sie sah nur direkt um sich die Rücken von Mänteln und Ärmel. Wenn sie den Blick hob, sah sie ausladende Hüte, deren Besitzerinnen sich gegenseitig zur Vorsicht mahnten, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass der Hut sehr teuer gewesen sei. Du liebe Güte! Musste man sich jetzt wirklich um Hüte streiten? Hatten diese Damen nichts anderes im Sinn, jetzt, wo jeden Moment der Fortschritt hier ankommen würde?
Zwei Herren waren äußerst skeptisch. Louise und Caroline tauschten belustigte Blicke: Der eine der Herren, der nicht müde wurde, seine Fähigkeiten als Arzt herauszustreichen, behauptete ganz fachmännisch, dass der menschliche Körper die Geschwindigkeit der Eisenbahn überhaupt nicht aushalten könne.
»Aber es sind doch schon Leute damit gefahren. Und außerdem steht ganz vorne der Lokführer«, entgegnete sein Gegenüber. Der Lokführer müsse dann wohl ein ziemlich grober Kerl sein; aber Damen könne man diese Strapaze auf keinen Fall zumuten. Louise wünschte sich nichts sehnlicher, als sich dieser Strapaze auszusetzen! Sie konnte nicht anders, sie musste sich nach vorn drängen, hin zum Rande des Bahnsteiges. Caroline mochte rufen und winken, wie sie wollte.
»He, he, junges Fräulein, nicht so stürmisch!«, rief ein Mann und fasste sie am Arm, denn beinahe wäre sie dem Abgrund zu nahe gekommen. Sie schaute hinunter in das Gleisbett, wo zwei eiserne Stränge nebeneinander lagen. »Schienen« wurden sie genannt. Wenn der Zug auf diesen Schienen kam, musste er sehr groß sein. Louise neigte sich vor; die Schienen verliefen sich in der Ebene, immer weiter und weiter, bis zum Horizont. Wohin mochten diese neuen Bahnen führen? Louise fühlte ihr Herz klopfen. Diese Bahnen waren viel mehr als nur eine eiserne Straße, auf der gleich ein Wagen vorbeifahren würde. Sie wiesen in eine Zukunft, die unabdingbar kommen würde. Eine Zukunft, in der alle Menschen am Fortschritt teilhaben würden. Ehern war dieser Weg vorherbestimmt, nicht eine Handbreit würde man ihn verändern können.
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