Wirtschaftsweise beklagten das Versagen der Politik in einem Jahrhundert, das der Menschheit so viele Chancen präsentiert hatte wie nie zuvor. Die Politik habe keine glaubwürdigen Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart, dozierte ein resigniert wirkender Forscher. Man brauche dringend neue Lösungen. Die Gesellschaften seien in sich tief gespalten. Diese Risse gelte es zu kitten. Die Anschläge zeigten, dass keine Zeit mehr für Debatten sei. Die Uhr sei auf eine Minute vor zwölf vorgerückt.
In Genf schaltete ein unauffälliger älterer Herr im ,Le Richemond‘ den Nachrichtenkanal aus. Er hatte in den letzten Tagen viel zu tun gehabt. Die Mühe hatte sich ausgezahlt. Sie tappten im Dunkeln. Zufrieden sah er auf den Bildschirm seines Laptops, auf dem die Analysen dechiffriert wurden. Die Geheimdienste schwärmten aus wie Ameisen und sammelten ein, was als verdächtig gelten konnte. Niemand hatte etwas kommen sehen. Das würde sie erschrecken. Noch erschrockener würden sie sein, wenn sie sich durch den Wust von Festnahmen und Informationen gekämpft hatten und die Analytiker keine Strategie präsentieren konnten.
Hans Rudy sah auf die Uhr. Die Stichworte waren gegeben, die Kontakte erneuert. Er hatte Anweisungen erhalten. Der Zug nach Wien ging in zwei Stunden.
Der Fährbetrieb war fast zum Erliegen gekommen. Überall flimmerten die Ereignisse aus London über die Bildschirme. Hunderte Passagiere schoben sich in quälend langsamem Tempo vorwärts. Die Fahrt bis Le Havre war ereignislos geblieben, aber jetzt hatte das Weltgeschehen die Reisenden nach Irland eingeholt.
,London brennt‘ war die rote Balkenüberschrift des Livetickers. Darunter Bilderfolgen, die nicht real wirkten. Susanne konnte die murrenden Familien verstehen, die erschöpfte Kinder vertrösteten und hätte sich selbst gerne über die mangelnde Kommunikation der Behörden beschwert. Wie ein undurchdringlicher Kordon standen Grenzpolizisten im Abfertigungsbereich des Fährhafens von Le Havre und durchsuchten mit unbewegten Mienen das Gepäck der Passagiere. Auf Fragen reagierten sie mit einem unwilligen Kopfschütteln. Sie schienen klare Anweisungen erhalten zu haben. Schwenkbare Kameras erfassten jede Einzelheit.
„Und das mitten in Europa. Einem Europa ohne Grenzen“, echauffierte sich eine Frau, die ein weinendes Mädchen auf ihrem Arm trug.
Es war Susanne nicht klar, was sie suchten. Gefälschte Papiere vielleicht oder gefährliche Gegenstände. Sie machte sich bereit, ihre Segeltuschtasche zu öffnen. Wortlos hielt sie dem Beamten ihre Papiere entgegen, als sie an der Reihe war.
„Susanne Leqlerc?“ Der Beamte hatte ein freundliches Gesicht und neugierige Augen. „Aus Brüssel?“ Sie bejahte. Der Grenzer senkte den Blick und tippte eine Personenabfrage in seinen Laptop. „Und sie kommen jetzt direkt aus Brüssel?“ Susanne nickte. Das war ihre erste Lüge. Der Mann schaute auf den Bildschirm. Ein kleines Geräusch ertönte. „Was ist in dieser Kartonrolle?“ Der Beamte hielt ihr Ausweis und Ticket hin. „Die Kopie eines Landschaftsgemäldes von Turner“ antwortete Susanne und machte sich auf weitere Fragen gefasst. Von hinten drängelte eine Familie mit übergewichtigen Kindern heran. Aus der rechten Warteschlange wurde ein Jugendlicher im Polizeigriff abgeführt, weil er eine Wasserpistole gezogen hatte. Die Fernseher an der Stirnwand der Halle zeigten verstörende Bilder von brennenden Gebäuden. „Sind Sie Malerin?“ Der Beamte hatte mit routinierten Griffen ihre Habseligkeiten durchsucht. Abermals bejahte Susanne und fügte erklärend hinzu, dass sie in Irland eine Reihe Zeichnungen im Stil Turners anfertigen wolle. Das war ihre zweite Lüge.
Auf der Fähre schloss Susanne die Augen. Es war alles so gekommen, wie es angekündigt war. Die Papiere hielten einer Überprüfung stand. Es war eine kluge Idee gewesen, den Weg von England nach Frankreich über den Eurotunnel zu wählen, bevor die Ereignisse ihren Lauf nahmen und in Paris das Auto und das Gepäck zu wechseln. Für alles war vorgesorgt gewesen. Susanne atmete tief durch. Ein Kaffee würde guttun.
Auf dem Weg zur Cafeteria spiegelte ein blank gewienerter Stahltresen das Konterfei der Kunstmalerin Susanne Leqlerc zurück. Susanne erkannte in der modebewussten Dame mit der sportlichen blonden Pferdeschwanzfrisur die hausbackene, schwerhüftige Rose nicht wieder. Make-up, Perücke und Accessoires hatten aus ihr eine andere Person gemacht.
Man hatte ihr versichert, dass nicht nach ihr gesucht werden würde. Die Auswertung der Videoaufzeichnungen vom Flughafen werde erfolglos bleiben, weil die Aufnahmen der fraglichen Nacht aus unerfindlichen Gründen unbrauchbar seien. Susanne trank ihren Kaffee an Deck und genoss den Fahrtwind. In einigen Stunden würde sie die Lichter von Dun Laoghaire sehen. Ihre alte Wohnung würde dank der Zeitschaltuhren und des deponierten Kerosins fast zeitgleich mit den ersten Flugzeugabstürzen in Flammen aufgegangen sein. Mit der Wohnung war auch ihre Vergangenheit verbrannt und Susanne war auferstanden. Der Wohnungsbrand würde im allgemeinen Chaos den Abstürzen zugerechnet werden und Rose auf die Vermisstenliste kommen, die fast so lang war, wie die Liste der Opfer. Ihre Familie würde den Verlust verschmerzen. Sie waren schon lange selbstständige Planeten in einem weit entfernten Universum.
Susanne tastete nach dem Satellitentelefon neuester Machart. Sie hatte es für den Grenzbeamten an und wieder ausmachen müssen. Selbst im ausgeschalteten Zustand sandte es Signale, die aufmerksam registriert wurden. Susanne machte sich darum keine Gedanken. Sie wollte noch ein wenig Schlaf finden, bevor sie die Fahrt über Wexford und Waterford nach Tramore mit dem Mietwagen fortsetzte. Von Tramore hatte sie bislang nur Bilder gesehen. Ein endlos langer Strand und das gewaltige Meer vor einer Kulisse aus Grün und geduckten Häuserreihen. Ein Paradies für Landschaftsmaler. Vielleicht würde sie wirklich malen, bevor sie neue Instruktionen erhielt. Susanne gähnte.
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