Alfred Rohloff
Die Leute in Baubeln
Geschichten aus einem verschwundenen Land
ATHENA
Umschlagfotos von oben nach unten:
Foto 1: »Familie Kislat, Windberge (Baubeln), bei der Feldarbeit, 1943«. Quelle: Kreisgemeinschaft Ebenrode (Stallupönen), »Ebenroder (Stallupöner) Heimatbrief«, 34. Folge, Dezember 1997, S. 93 (eingesandt von Emma Beyer)
Foto 2: »Ernte in Matten: beim Aufladen der Garben auf den langen Leiterwagen, Lehrmädchen auf dem Pferd«. Quelle: Kreisgemeinschaft Ebenrode (Stallupönen), »Ebenroder (Stallupöner) Heimatbrief«, 35. Folge, Dezember 1998, S. 64 (eingesandt von Werner Jautelat)
Foto 3: »Roggenernte in Schenkenhagen (Schinkuhnen), Kornaust 1932: vorweg Bauer Wilhelm Demant als Hauer, dahinter seine Frau als Rooper«. Quelle: Kreisgemeinschaft Ebenrode (Stallupönen), »Ebenroder (Stallupöner) Heimatbrief«, 37. Folge, Dezember 2000, S. 71
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ISBN (Print) 978-3-89896-599-6
ISBN (ePUB) 978-3-89896-870-6
Sicher möchte der geneigte Leser gleich zu Anfang eine wenigstens entfernte Vorstellung von dem gewinnen, was Baubeln denn nun eigentlich ist oder war; und eine »entfernte« Vorstellung kann in der Tat auch nur gegeben werden, liegt doch dieses kleine Dörfchen sehr weit hinten, – ja noch weit hinter den Wäldern und Wiesen des Ostens. Auch hätte der geneigte Leser eine Reihe mittlerer und großer Flüsse zu überqueren, wollte er dieses kleine Örtchen mit seiner Hauptstraße, seinem Dorfplatz und seinen fünf Feldwegen persönlich in Augenschein nehmen. Hinzu kommt, daß die Spuren, die einst Kastenwagen und Leiterwagen, ja manchmal sogar Kutschen und womöglich ein hupendes Benzinungeheuer hinterließen, heute längst durch Schnee und Regen, durch den Wind und die neuere Geschichte verweht sind, so daß es schwer sein dürfte, dieses Fleckchen Erde wiederzufinden. Ja, es gibt Leute, die völlig vergeblich danach gesucht haben.
Aber dies alles im Einzelnen persönlich zu besichtigen, wird sich auch erübrigen, wenn der geschätzte Leser sich der ihm hier vorgehaltenen Lektüre hingibt, so daß er bald selber das helle Rascheln der Kornfelder, die Baubeln umgeben, wird vernehmen können, ganz zu schweigen von dem eher dunklen Rauschen der wenigen Kastanien, die den Dorfplatz säumen, oder dem Gekläff der beiden hell gefleckten Köter, die rastlos die meist leere Dorfstraße kontrollieren und hin und wieder von einem der großen Hofhunde eine dumpfe, eher abweisende Antwort erhalten.
Da Baubeln nicht genug, wie man so zu sagen pflegt, »Seelen« hat, um eine Kirche sein eigen nennen zu können, wird sein Zentrum durch die Gestalt einer kleinen Gastwirtschaft, der »Lindenkrone«, gebildet, die sich am Dorfplatz dahinstreckt und ihren Namen auf einem gemalten Holzschild dem müden Wanderer entgegenhält, sofern es denn einen solchen gelüsten sollte, nach Baubeln zu kommen.
Und die Leute von Baubeln?
Der aufmerksame Leser wird sogleich verstehen, wie wichtig der eingangs gegebene Hinweis auf die östlichen Ebenen für die Beurteilung der räumlichen Lage von Baubeln gewesen ist, könnte man doch, ausgehend vom Klang der Namen seiner Bewohner, schwerlich auf einen bestimmten geographischen Raum schließen. Denn in Baubeln da gibt es die Paletzkes, die Kaschuweits, die Griegels, die Feuersengers, die Sanitzkis, die Florimonts, die Petritzkis, die Seuterdiiks, die Demangès und Richters, die Schimkats und Seidels, um nur die wichtigsten Personen des Dorfes hier zu nennen. Allerdings habe ich mit dieser kleinen Aufzählung auch schon alle erwähnt. Auch der namenkundigste Leser müßte angesichts dieser irritierenden Namensliste ohne den wichtigen Hinweis auf die östlichen Ebenen ziellos auf einer Landkarte über ganz Europa herumirren, ohne irgendwo entschieden Halt finden zu können.
Schon seit Urzeiten hatten sich hier in Baubeln die verschiedensten Völkerschaften guten Tag gesagt, waren sich hier manchmal mehr freundschaftlich begegnet bei Kümmel oder Bärenfang, wie dies eher den Wünschen dieser Völkerschaften entsprach, häufig aber auch bei Kanonendonner und Schwarzpulverdampf, wie es eher den Vorstellungen der Obrigkeiten dieser Völkerschaften gemäß war.
Jedenfalls war da in der Gegend von Baubeln einiges an Völkern zusammengelaufen, mitunter aus Neugierde und Abenteuerlust, mitunter aber auch aus Not und Verfolgung; und ohne näher in die so schwierigen Fragen der Geschichte einzudringen, sei hier nur festgestellt, daß man aus diesem Grunde in dem kleinen Dörfchen Namen hören kann, die sonst nur weit verstreut in verschiedenen Teilen Europas auftreten.
Nun ja, die Leute von Baubeln, das sind schon Erdenbewohner ganz besonderer Art. Da haben sie, um es nur an einem Beispiel zu zeigen, Wörter in ihrem Gebrauch, die in anderen Ländern entweder verpönt oder längst ausgestorben sind. Ich denke jetzt nur daran, daß sie ihre Waren zwar alle, wie anderswo auch, mit »Mark« und »Pfennigen« bezahlen, aber um keinen Preis dazu zu bewegen sind, diese Valuta auch so zu benennen. Nein, nein, für die Baubler sind dies »Gulden« und »Dittjes«, da mögen die anderen doch sagen, was sie wollen. Den süßen Fladen, den sie backen und der besonders zur Kaffeepause auf den Feldern geschätzt wird, nennen sie »Pierak«, und dem kleinen Häuschen mit dem Herzchen in der Tür haben sie den vornehmen Namen »Portemang« gegeben.
Oder, lieber Leser, nehmen wir die Eigenwilligkeit dieser Leute, auch noch das »Nichts« zu steigern, was doch wohl jeder ordentlichen philosophischen Theorie zum Spott gereichen muß. Sie, lieber Leser, sind doch wohl auch der Meinung, daß dies ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wie soll man dort, wo nichts ist, noch etwas steigern können? Woher denn? Und in welche Richtung denn auch?
Nicht so aber diese Baubler!
Sie sind in der Lage, auch noch das »Nichts« zu steigern. Da mögen irgendwelche eingebildeten Philosophen doch sagen, was sie wollen.
Denn ein einfaches »Nichts«, das bei ihnen schlicht »Nuscht« heißt, ist ihnen nicht »Nichts« genug! Nein, sie erfanden dazu noch die Steigerung: »Nuscht nich«, oder jene andere Form: »Gar Nuscht«, ganz zu schweigen von dem Superlativ: »Rein Nuscht nich« oder dem höchsten der Superlative: »Rein Nuscht nich gar Nuscht«!
Ja, es ließen sich lange Abhandlungen über manche ihrer seltsamen Ausdrücke schreiben. Um aber den geneigten Leser nicht allzu sehr in eine sprachliche Verwirrung zu stürzen, die selbst noch die babylonische in den Schatten stellen könnte, wollen wir dieses Durcheinander an Tönen und Bedeutungen lieber den ordnenden Händen der Wissenschaftler überlassen, denen sich hier ein weites Feld eifriger Tätigkeit eröffnen könnte.
Erwähnen sollte man aber noch, daß in Baubeln, wie kaum anderswo, eine Unmenge von Lehren und Irrlehren befolgt wird, heidnische wie auch christliche, und daß die verschiedensten Sitten und Gebräuche sich dort einer aufmerksamen Pflege erfreuen. So buntscheckig wie im Sommer ihre Felder, sind auch ihre Versuche, sich dem Göttlichen zu nähern. Darum hält man zwar auch Verbindung zum Heiland, aber auch zu den Göttern, und nicht bloß zu jenen, die man Baldur oder Wotan nennt, sondern auch zu solchen, die Namen wie Perkunus, Perkullus und Patrimpus tragen – letztere eine freundliche Hinterlassenschaft längst eingemeindeter Ursprungsvölker, mit denen man sich, sozusagen auf diesem Umweg über die Götter, noch weitläufig verbunden weiß.
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