gez. Jochen Herdieckerhoff
Wien, 1. Juni 2006
Harry Rowohlt schrieb in der Zeit: »Einer meiner allerbesten Freunde, Jochen Herdieckerhoff, hat sich, was ich ihm persönlich sehr übelnehme, umgebracht. Wie so ein Born an Kreativität und guter Laune insgeheim tieftraurig sein kann –, das bleibt sein Geheimnis und das so vieler anderer Hoch- und Sonderbegabter, die uns olle Muffköppe so lange aufmöbeln, bis es für sie selbst nicht mehr reicht.«
Es gibt so viele Menschen, deren Leben und Tod einem vollständig gleichgültig sind. Jochen Herdieckerhoff gehörte und gehört nicht dazu. Ich wünsche ihm, was er sich wünschte.
Leipzig: Mercedes Bach und Russentussen
DER 28. JULI 2007 WAR DER 257. Todestag von Johann Sebastian Bach. In Leipzig, das sich gern und stolz »Bach-Stadt« nennt, wurde das Jubiläum im Rahmen des MDR-Musiksommers mit einem Konzert in der Thomaskirche begangen. Zu hören gab es Werke von Bach und Buxtehude, der Bachs Lehrer und Vorbild in Lübeck war. Bach, der wusste, dass Buxtehude die Stellung nur bekommen hatte, weil er die Tochter seines Vorgängers ehelichte, fürchtete vermutlich ein ähnliches Schicksal, riss vorsichtshalber aus und nahm den Posten als Kantor in Leipzig an. Von Bachs Instinktsicherheit profitiert Leipzig bis heute.
Profit machen ist seit 1989 ohnehin das Hauptmenschenrecht in Leipzig. Kultur! Kultur!, brüllt es einem aus der Stadt entgegen; Kultur ist keine Frage der Lebensweise, sondern ein Wirtschaftsfaktor, ein Pfund, mit dem Sachsen wuchert, um Geld ins Land zu bekommen – dafür fiedelte der peinliche Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee lange genug öffentlich auf dem Cello herum, bis er als Verkehrsminister fortgelobt wurde und zum Regierungsmitglied heraufsank.
Vor der Thomaskirche machten sich die Sponsoren Mercedes Benz und Rotkäppchen breit. Wer absahnen will, tut gut daran, seine noblen Absichten zu demonstrieren und die Kultur zu fördern, das kann man steuerlich absetzen, kostet also nur ein bisschen Aufwand, hebt den eigenen Status ungeheuer und schafft ein Kumpanei- und Korruptionsklima auf feintuerischem Niveau. Reich an Zahl waren junge Frauen und Männer in jener Grauzone beschäftigt, die zwischen Servicekraft und Hostess changiert. Ist das eine Arbeit? Präsent sein, Lächeln anknipsen, »Was kann ich für Sie tun?« und »Noch ein Gläschen vielleicht?« säuseln und herumplinkern und -zwitschern? Man nennt es wohl eher Tätigkeit oder Beschäftigung. Von den rudelweise durch Leipzig stöckelnden neureichen Russentussen unterscheiden sich die im Kulturgeschäft arbeitenden Jungmenschen immerhin dadurch, dass sie weniger schwer eingedieselt sind und den vollprostituierten Prada-Abgeschmack verweigern.
Bach mag für das Leipziger Kulturestablishment zwar sein, was solche Leute »eine Marke« nennen; seiner Musik allerdings kann das wenig anhaben, zumal wenn man sie außerhalb des Gesellschaftsereignisses hört. Das lange ausverkaufte Konzert in der Thomaskirche wurde live vom Kulturradio MDR Figaro übertragen; wäre alles im Radio von dieser Qualität, dürften die Rundfunkgebühren gern dreimal so hoch sein. Bachs Musik ist ein ungeheures Kraftfeld, ein Lebensbejahungsmotor, sie dreht einem das Innerste auf links – als zöge sie einem die Seele wie einen falschherum getragenen Pullover über den Kopf, und wenn die Musik mit einem fertig ist, sitzt alles wieder richtig, ist geklärt und passt.
Nach dem Konzert las ich noch einmal, was Danny Dziuk mir über Bach geschrieben hatte, den er neben Bob Dylan und Miles Davis zu seinen drei musikalischen Hausheiligen zählt: »Bach zeigt auf eine nie wieder dagewesene Art die Schönheit von Mathematik, er hat das ausgeschöpft. Und gleichzeitig ist er religiös: als würde der Widerspruch zwischen Glaube und Wissenschaft nicht existieren. Es ist dieses Paradoxon, dass er einerseits wie kein anderer nach ihm die Prinzipien von Tonalität an ihre absoluten Grenzen treibt, auslotet und mit absoluter Strenge zuende denkt. (Danach kommt nur noch die Auflösung der Tonalität, also die klassische Moderne, ungefähr 150 Jahre später. Dagegen sind die Klassiker und Romantiker – erst recht Wagner – disziplinlose und unwissenschaftliche Schwärmer und Schwadroneure.) Andererseits jedoch scheint sich gerade die überirdisch ekstatische Schönheit mancher Melodien von Bach folgerichtig aus der Strenge seiner Methode abzuleiten, als würde er sagen: Je gewissenhafter ihr forscht, um so mehr wird sich am Ende herausstellen, wie wunderbar dieses Universum konstruiert ist. Danken wir also dem Konstrukteur. Es hat etwas Einstein-haftes à la ›Gott würfelt nicht‹.«
Ich war beeindruckt, und ich war erfreut über die Verwandtschaft des Geistes. Musik und Literatur, jedenfalls wenn sie etwas taugen, sind eine Einheit aus Verstand und Intuition. Schreiben (oder Komponieren) ist Denken und Fühlen in einem, also Kopf und Herz oder eben Arithmetik und Hingabe; es braucht beides in einem schönen Ebenmaße, um die Welt zu durchdringen und ihr Form und Ausdruck zu verleihen. Mit nur einem von beiden kommt man nicht weit. Fehlt das wärmende Feuer des Gefühls, wird es spitzfindig und fischig; ist das Korrektiv eines klaren, kühlen Verstandes nicht vorhanden, wird es soßig und man versinkt im Kitsch.
Dass man mit Wagner in Bayreuth die Kulturschickeria bedient, leuchtet ein, Wagners Pop-und-Pomp-Gedröhn gibt das her. Dass man aus Bach aber Mercedes Bach zu machen versucht, liegt nicht in Bach und seiner Musik begründet. Das schaffen die Leipziger seit 1989 ganz allein.
Pfefferminz mit Sibiriengeschmack
DER 13. AUGUST IST BILLY-WILDER-TAG: Man muss »Eins, Zwei Drei« kucken. Die tragenden Säulen des deutschen Humors heißen »Lachen ist gesund«, »Spaß muss sein« und »Hier hört der Spaß auf«. Dieses dunstige, morastige Terrain gilt es unbedingt zu meiden. Besser lernt man bei den aus Deutschland entronnenen Komödienmeistern Ernst Lubitsch und Billy Wilder, dass nichts ist, was zu sein es scheint, schon gar nicht das sogenannte Gute.
Als Billy Wilder 1961 seine rasante Komödie »Eins, Zwei, Drei« drehte, war das Brandenburger Tor noch offen. Als aber der Film in die Kinos kam, war die Berliner Mauer frisch errichtet. Das deutsche Publikum tat, wozu es fähig ist, wenn es mit Humor, also mit heucheleifreier, rücksichtsloser Klarsicht konfrontiert wird: Es nahm übel. Der Film verschwand und kam erst 24 Jahre später wieder ins Kino. So lange dauerte es, bis Deutsche bereit waren, die komischen Aspekte ihres Nationalgeteiltseins überhaupt wahrzunehmen. Allerdings blieb die Ernstnehmerfraktion, die in der Existenz zweier deutscher Staaten ausschließlich eine Tragödie und eine Katastrophe sehen wollte, stets in der Mehrheit.
»Eins, Zwei, Drei« beginnt mit einer Einordnung der historischen Bedeutung dessen, was in Westdeutschland als Schandnabel des Universums galt. Die Welt aber ist erheblich größer: Am 13. August 1961 fand in Washington ein Baseballspiel der Yankees gegen die Senators statt. D a s war ein Ereignis, aber doch nicht der kleine Mauerbau.
Auch nach geschätzten hundertmal Ankucken ist »Eins, Zwei, Drei« ein Geysir der hellen Freude und eine Lektion in Sachen Tempo, Timing und Dialogwitz. Was für ein Ideenreichtum, was für eine verschwenderische Liebe zum Detail – mit dem, was Billy Wilder hier an Einfällen verbriet, müssen unsere neuen gesamtdeutschen Komödien sonst locker 50 Jahre lang auskommen.
Billy Wilder bewahrt Haltung und schlägt sich keinem Lager zu; sein Film beleuchtet die Peinlichkeiten auf allen Seiten. Und davon gibt es, zur Freude des Betrachters, jede Menge. Ausnahmslos alle Hauptbeteiligten lügen und betrügen, um ihre Ziele zu erreichen; unsympathisch werden sie dadurch nicht. Die Welt ist ein Irrenhaus; wer sich darin behaupten will, muss das wissen und entsprechend handeln.
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