Ein zweiter Dämpfer für die Münsteraner war das Belobigungsschreiben des Papstes an den Neuthomisten Ernst Commer (1847 – 1928). 24In der Auseinandersetzung um den 1906 verstorbenen Schell trat dessen vormaliger Freund Commer als sein schärfster Gegner hervor. 25Für sein Werk „Herman Schell und der fortschrittliche Katholizismus“ 26erhielt er auf Anregung des Indexsekretärs Thomas Esser OP per Breve vom 14. Juni 1907 eine päpstliche Belobigung, 27die die ohnehin stark emotionalisierte Kontroverse weiter anheizte. Da die Indizierung Schells der Auslöser für das Bittschriftunternehmen war, traf die Belobigung des Schell-Gegners Commer zumindest indirekt auch den Kreis um ten Hompel. 28
Ein weiterer Rückschlag aus Rom sollte folgen. Ein Exemplar des vertraulichen Bittschriftentwurfs und der Organisationsgrundlagen für die Kulturgesellschaft gelangte in die falschen Hände: Am 7. Juli 1907 druckte die „Corrispondenza Romana“ unter der Überschrift „Una lega segreta internazionale contro l’Indice e per la Cultura“ die bis dahin geheim gehaltenen Unterlagen in italienischer Übersetzung ab. Hinter der integralen „Corrispondenza Romana“ stand mit Umberto Benigni (1862 – 1934), Untersekretär im vatikanischen Staatssekretariat, „der prominenteste und vielleicht einflussreichste Antimodernist unter Pius X.“ 29Im einleitenden Absatz der ungewöhnlich umfangreichen „Corrispondenza“ -Ausgabe wurde zur „Indexbewegung und Kulturgesellschaft“ bemerkt, seit Bismarck bezeichne der Terminus „Kultur“ den Kampf gegen den traditionellen, integralen, römischen Katholizismus und werde vor allem von den Modernisten verwendet. Aus den geheimen Dokumenten spreche der Geist des indizierten Romans „Il Santo“ von Fogazzaro, der auf Deutsch im „Hochland“ erschienen und dessen Herausgeber Muth Teil der Index-Liga sei.
Die Veröffentlichung der im Entwurfsstadium befindlichen Dokumente löste ein breites Echo aus. Nachdem zunächst Zweifel an der Authentizität des Materials laut wurden, 30versuchte vor allem die Zentrumspresse die von der „Corrispondenza Romana“ aufgebauschte Angelegenheit herunterzuspielen.
Der Enthüllungsjournalismus der „Corrsipondenza Romana“ bekam Schützenhilfe durch den „Osservatore Romano“ : Ab dem 9. Juli wurde dort in anonymen Artikeln gegen die vermeintliche internationale Geheimgesellschaft polemisiert. 31Abschaffung und moralische Vernichtung der Indexkongregation, einer lebensnotwendigen Funktion des kirchlichen Lehramtes und der kirchlichen Disziplin, würden angestrebt. Dabei sei der Index gerade in diesen glaubensfeindlichen Zeiten unentbehrlich. 32Angesichts der Masse an wissenschaftlichen und literarischen Publikationen und der rasanten Verbreitung von Ideen sei es notwendig, Glauben und Moral zu schützen. Sämtliche Reformanregungen der Bittschrift wurden zurückgewiesen. In einem weiteren Beitrag bemühte man sich, den Autoren der Bittschrift Unkenntnis der Verfahrensordnung für Buchzensurprozesse 33nachzuweisen. Der in der Petition artikulierten Bitte, dem Autor die Möglichkeit zur Verteidigung einzuräumen, wurde entgegengehalten, dass die Verfahrensordnung angesehenen Autoren das Recht gewähre, angehört zu werden, freilich eine Bestimmung, die in der Praxis nur selten umgesetzt wurde; tatsächlich trat die Kongregation oft erst dann mit den Autoren in Kontakt, wenn das Urteil über ihre Schriften bereits gefällt war. 34In zwei weiteren Artikeln schließlich wurde die Münsteraner Initiative mit dem Modernismus in Verbindung gebracht: 35Der Geist des Individualismus, der Kult des „Ich“ werde der hierarchisch verfassten Autorität und dem Lehramt der Kirche entgegengestellt.
Von Hertling, der trotz seines Rückzuges von der Bewegung in den publizierten Entwürfen als zentrale Figur erschien, hatte Mühe, sich durch entsprechende Presseerklärungen glaubhaft von ten Hompels Initiative zu distanzieren. Die Münsteraner waren mittlerweile in die Offensive gegangen: Neben einer Presseaussendung, in der erklärt wurde, dass von Hertlings Name „irrtümlich“ verwendet worden sei, 36veröffentlichten sie die Entwürfe von Bittschrift und „Organisationsgrundlagen“ der Kulturgesellschaft im „Münsterischen Anzeiger“ vom 11. und 12. Juli 1907. 37Der Kritik, dass die Index-Liga bislang im Geheimen operiert hatte, begegnete man dadurch, dass Mitte August dem Bischof von Münster, Hermann Dingelstad (1889 – 1911), und dann den Kardinälen Anton Fischer (1840 – 1912) von Köln und Georg Kopp (1837 – 1914) von Breslau die Bittschrift zugestellt wurde, damit diese auf der Fuldaer Bischofskonferenz im August 1907 besprochen werden konnte. 38Während Dingelstad und sein Generalvikar von Hartmann den Unternehmungen ten Hompels äußerst kritisch gegenüberstanden, hatte Kopp in einem Schreiben vom 25. Juli an den Bittschriftunterzeichner Graf Praschma (1867 – 1935) bekundet, dass er die „treukirchliche Gesinnung der katholischen Männer“ anerkenne. In dem in der „Germania“ veröffentlichten Schreiben kritisierte Kopp allerdings, dass die Münsteraner den Episkopat nicht frühzeitig informiert hatten. 39
Hinsichtlich der Anliegen der Münsteraner war die Bischofskonferenz eher ein Rückschritt: Eine bereits im November 1906 von Rom erteilte Erlaubnis, Beichtvätern die Vollmacht zum Dispens vom Verbot, indizierte Bücher zu lesen, erteilen zu dürfen, 40von der die deutschen Bischöfe bislang keinen Gebrauch gemacht hatten, wurde auch weiterhin nicht umgesetzt. 41Es ist anzunehmen, dass die öffentliche Aufregung um die „Index-Liga“ die Bischöfe zu dieser Vorsichtsmaßnahme bewogen hatte.
Auch nach der Bischofskonferenz im August 1907 blieb die Affäre um ten Hompels Bittschriftunternehmen im öffentlichen Bewusstsein. Im Dom zu Münster wurde im Dezember unter deutlicher Anspielung auf die Index-Liga gepredigt. Weihbischof Everhard Illigens (1851 – 1914) 42brachte die Bestrebungen, die Indexregelungen zu modifizieren, mit dem Modernismus in Zusammenhang, indem er die Beschreibung der Modernisten als Reformer aus der im September erlassenen Enzyklika Pascendi 43anwendete. 44Bischof Dingelstad verteidigte in seinem Fastenhirtenbrief im Februar 1908 die kirchliche Buchgesetzgebung, „die die Kirche in ihrer mütterlichen Liebe und Sorge (...) zur Abwehr der Pest schlechter Bücher“ erlassen habe. Offensichtlich auf die Index-Liga anspielend mahnte er: „Diese Schutzwehr in vermessenem Vertrauen auf die eigene Kraft und Tugend zu schwächen oder entfernen zu wollen, das würde heißen, Tausende ohne Not in die größte Gefahr ihrer Seelen zu bringen.“ 45
Aber nicht nur in Münster blieb die Index-Liga Thema. 1908 erschien die zweite Auflage von Commers Schmähschrift gegen Schell. Wie zuvor die „Corrispondenza Romana“ versuchte Commer, Schell eine zentrale Funktion im Bittschriftunternehmen zuzuschreiben 46und, wie auch der „Osservatore Romano“ , die Index-Liga „einer Art Freimaurerei“ und des mittlerweile durch die Enzyklika Pascendi umfassend definierten und verurteilten Modernismus zu zeihen.
Die Verteidiger der Indexkongregation sahen sich mittlerweile durch die Kurienreformen Pius’ X. bestätigt. 47In einer „Romkorrespondenz aus hochgestellten kirchlichen Kreisen“, die in der „Schweizerischen Kirchenzeitung“ publiziert wurde, deutete der Autor die gestärkte Stellung der Kongregation durch die Neuorganisation der Kurie als Antwort auf die Reformvorschläge der Index-Bittschrift: Die Indexkongregation war weder aufgehoben noch umgestaltet worden, wie andere Kongregationen, ihre Vollmachten wurden erweitert, da sie jetzt auch, ohne dass zuvor eine Anzeige erfolgen musste, Bücher untersuchen sollte. 48Tatsächlich hatte Pius X. zunächst vorgesehen, die Indexkongregation als eigenständige Behörde aufzulösen und die römische Buchzensur ganz dem Heiligen Offizium zuzuweisen, nahm davon nach den römischen Publikationen zur Index-Liga aber wieder Abstand. 49Im Zuge seiner antimodernistischen Kampagne versuchte der Papst in der Folgezeit die Buchzensur als Instrument zu stärken: Die Enzyklika Pascendi schärfte die Pflicht der Bischöfe zur präventiven und repressiven Zensur ein und rief die geltenden Bestimmungen in Erinnerung. 50Das Motu proprio Sacrorum antistitum wiederholte nicht nur die Maßnahmen, sondern verhängte gar ein generelles Verbot für Seminaristen, Zeitungen und Zeitschriften zu lesen. 51Als eine Lehre der „Modernisten“ führte Pascendi die Forderung an: „Die römischen Kongregationen (...) besonders die des heiligen Offiziums und des Index, müssen gleichfalls geändert werden“ 52und schuf damit die Basis, um die Münsteraner Index-Liga als modernistisch zu verurteilen.
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