Gesetzt auch, jenes Äußerste der Anstrengungen wäre ein Absolutes, das leicht gefunden werden könnte, so muß man doch gestehen, daß der menschliche Geist sich dieser logischen Träumerei schwerlich unterordnen würde. Es würde in manchen Fällen ein unnützer Kraftaufwand entstehen, welcher in anderen Grundsätzen der Regierungskunst ein Gegengewicht finden müßte; eine Anstrengung des Willens würde erfordert werden, die mit dem vorgesetzten Zweck nicht im Gleichgewicht stände und also nicht ins Leben gerufen werden könnte, denn der menschliche Wille erhält seine Stärke nie durch logische Spitzfindigkeiten.
Anders aber gestaltet sich alles, wenn wir aus der Abstraktion in die Wirklichkeit übergehen. Dort mußte alles dem Optimismus unterworfen bleiben, und wir mußten uns den einen wie den anderen denken, nicht bloß nach dem Vollkommenen strebend, sondern auch es erreichend. Wird dies jemals in der Wirklichkeit auch so sein? Es würde so sein, wenn:
1. der Krieg ein ganz isolierter Akt wäre, der urplötzlich entstände und nicht mit dem früheren Staatsleben zusammenhinge,
2. wenn er aus einer einzigen oder aus einer Reihe gleichzeitiger Entscheidungen bestünde,
3. wenn er eine in sich vollendete Entscheidung enthielte, und nicht der politische Zustand, welcher ihm folgen wird, durch den Kalkül schon auf ihn zurückwirkte.
Der Krieg ist nie ein isolierter Akt
Was den ersten Punkt betrifft, so ist jeder der beiden Gegner dem anderen keine abstrakte Person, auch für denjenigen Faktor im Widerstandsprodukt, der nicht auf äußere Dinge beruht, nämlich den Willen. Dieser Wille ist kein ganz Unbekanntes; er tut sich kund für das, was er morgen sein wird, in dem, was er heute war. Der Krieg entsteht nicht urplötzlich; seine Verbreitung ist nicht das Werk eines Augenblicks, es kann also jeder der beiden Gegner den anderen großenteils schon aus dem beurteilen, was er ist, was er tut, nicht nach dem, was er, streng genommen, sein und tun müßte. Nun bleibt aber der Mensch mit seiner unvollkommenen Organisation immer hinter der Linie des Absolut-Besten zurück, und so werden diese von beiden Seiten in Wirksamkeit tretenden Mängel ein ermäßigendes Prinzip.
[40] Er besteht nicht aus einem einzigen Schlag ohne Dauer
Der zweite Punkt gibt uns zu folgenden Betrachtungen Veranlassung.
Wäre die Entscheidung im Kriege eine einzige oder eine Reihe gleichzeitiger, so müßten natürlich alle Vorbereitungen zu derselben die Tendenz zum Äußersten bekommen; denn ein Versäumnis ließe sich auf keine Weise wieder einbringen, es würden also aus der wirklichen Welt höchstens die Vorbereitungen des Gegners, soweit sie uns bekannt sind, einen Maßstab für uns abgeben können, und alles übrige fiele wieder der Abstraktion anheim. Besteht aber die Entscheidung aus mehreren sukzessiven Akten, so kann natürlich der vorgehende mit allen seinen Erscheinungen am nachfolgenden ein Maß werden, und auf diese Weise tritt auch hier die wirkliche Welt an die Stelle des Abstrakten und ermäßigt so das Bestreben nach dem Äußersten.
Nun würde aber jeder Krieg notwendig in einer einzigen Entscheidung oder in einer Reihe gleichzeitiger enthalten sein müssen, wenn die zum Kampf bestimmten Mittel alle zugleich aufgeboten würden oder sich aufbieten ließen; denn da eine nachteilige Entscheidung die Mittel notwendig vermindert, so kann, wenn sie in der ersten alle angewendet worden sind, eine zweite eigentlich nicht mehr gedacht werden. Alle kriegerischen Akte, die nachfolgen könnten, gehörten dem ersten wesentlich zu und bildeten eigentlich nur seine Dauer.
Allein wir haben gesehen, daß schon bei den Vorbereitungen zum Kriege die wirkliche Welt an die Stelle des bloßen Begriffs, ein wirkliches Maß an die Stelle einer äußersten Voraussetzung tritt; also schon darum werden beide Gegner in ihrer Wechselwirkung hinter der Linie einer äußersten Anstrengung zurückbleiben, und also nicht sogleich alle Kräfte aufgeboten werden.
Aber es liegt auch in der Natur dieser Kräfte und ihrer Anwendung, daß sie nicht alle zugleich in Wirksamkeit treten können. Diese Kräfte sind: die eigentlichen Streitkräfte, das Land mit seiner Oberfläche und Bevölkerung, und die Bundesgenossen.
Das Land mit seiner Oberfläche und Bevölkerung macht nämlich, außerdem daß es der Quell aller eigentlichen Streitkräfte ist, auch noch für sich einen integrierenden Teil der im Kriege wirksamen Größen aus, und zwar nur mit dem Teile, der zum Kriegstheater gehört oder einen merklichen Einfluß darauf hat.
Nun kann man wohl alle beweglichen Streitkräfte gleichzeitig wirken lassen, aber nicht alle Festungen, Ströme, Gebirge, Einwohner usw., kurz, nicht das ganze Land, wenn dieses nicht so klein ist, daß es von dem ersten Akt des Krieges ganz umfaßt wird. Ferner ist die Mitwirkung der Bundesgenossenschaft nicht von dem Willen der Kriegführenden abhängig, und es liegt in der Natur der Staatenverhältnisse, daß sie häufig erst später eintritt oder sich verstärkt zur Herstellung des verlorenen Gleichgewichts.
[41] Daß dieser Teil der Widerstandskräfte, welche nicht sogleich in Wirksamkeit gesetzt werden können, in manchen Fällen einen viel größeren Teil des Ganzen ausmacht, als man auf den ersten Blick glauben sollte, und daß dadurch selbst da, wo die erste Entscheidung mit einer großen Gewalt gegeben, und also das Gleichgewicht der Kräfte sehr gestört worden ist, dieses doch wieder hergestellt werden kann, wird in der Folge näher entwickelt werden. Hier genügt es uns, zu zeigen, daß der Natur des Krieges eine vollkommene Vereinigung der Kräfte in der Zeit entgegen ist. Nun könnte dies an und für sich kein Grund sein, die Steigerung der Anstrengungen für die erste Entscheidung zu ermäßigen, weil eine ungünstige Entscheidung immer ein Nachteil ist, dem man sich nicht absichtlich aussetzen wird, und weil die erste Entscheidung, wenn sie auch nicht die einzige bleibt, doch um so mehr Einfluß auf die folgenden haben wird, je größer sie gewesen ist; allein die Möglichkeit einer späteren Entscheidung macht, daß der menschliche Geist sich in seiner Scheu vor allzugroßen Anstrengungen dahinein flüchtet, also bei der ersten Entscheidung die Kräfte nicht in dem Maß sammelt und anstrengt, wie sonst geschehen sein würde. Was jeder der beiden Gegner aus Schwäche unterläßt, wird für den anderen ein wahrer objektiver Grund der Ermäßigung, und so wird durch diese Wechselwirkung wieder das Streben nach dem Äußersten auf ein bestimmtes Maß der Anstrengung zurückgeführt.
Der Krieg ist mit seinem Resultat nie etwas Absolutes
Endlich ist selbst die Totalentscheidung eines ganzen Krieges nicht immer für eine absolute anzusehen, sondern der erliegende Staat sieht darin oft nur ein vorübergehendes Übel, für welches in den politischen Verhältnissen späterer Zeiten noch eine Abhilfe gewonnen werden kann. Wie sehr auch dies die Gewaltsamkeit der Spannung und die Heftigkeit der Kraftanstrengung mäßigen muß, versteht sich von selbst.
Die Wahrscheinlichkeiten des wirklichen Lebens treten an die Stelle des Äußersten und Absoluten der Begriffe
Auf diese Weise wird dem ganzen kriegerischen Akt das strenge Gesetz der nach dem Äußersten getriebenen Kräfte genommen. Wird das Äußerste nicht mehr gefürchtet und nicht mehr gesucht, so bleibt dem Urteil überlassen, statt seiner die Grenzen für die Anstrengungen festzustellen, und dies kann nur aus den Daten, welche die Erscheinungen der wirklichen Welt darbieten, nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen geschehen. Sind die beiden Gegner nicht mehr bloße Begriffe, sondern individuelle Staaten und Regierungen, ist der Krieg nicht mehr ein idealer, sondern ein sich eigentümlich gestaltender Verlauf der Handlung: so wird das wirklich [42] Vorhandene die Data abgeben für das Unbekannte, zu Erwartende, was gefunden werden soll. Aus dem Charakter, den Einrichtungen, dem Zustande, den Verhältnissen des Gegners wird jeder der beiden Teile nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen auf das Handeln des anderen schließen und danach das seinige bestimmen.
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