1 ...7 8 9 11 12 13 ...44 Wäre diese Kontinuität des kriegerischen Aktes wirklich vorhanden, so würde durch sie wieder alles zum Äußersten getrieben werden; denn [45] abgesehen davon, daß eine solche rastlose Tätigkeit die Gemütskräfte mehr entflammen und dem Ganzen einen höheren Grad von Leidenschaft, eine größere Elementarkraft geben würde, so würde auch durch die Kontinuität des Handelns eine strengere Folge, eine ungestörtere Kausalverbindung entstehen und damit jede einzelne Handlung bedeutender und also gefahrvoller werden.
Aber wir wissen, daß die kriegerische Handlung selten oder nie diese Kontinuität hat, und daß es eine Menge von Kriegen gibt, wo das Handeln bei weitem den geringsten Teil der angewendeten Zeit einnimmt, und der Stillstand den ganzen übrigen. Dies kann unmöglich immer eine Anomalie, und der Stillstand im kriegerischen Akt muß möglich, d. h. kein Widerspruch in sich sein. Daß und wie es so ist, wollen wir jetzt zeigen.
Hier wird also ein Prinzip der Polarität in Anspruch genommen
Indem wir das Interesse des einen Feldherrn immer in entgegengesetzter Größe bei dem anderen gedacht haben, haben wir eine wahre Polarität angenommen. Wir behalten uns vor, diesem Prinzip in der Folge ein eigenes Kapitel zu widmen, müssen aber hier folgendes darüber sagen.
Das Prinzip der Polarität ist nur gültig, wenn diese an ein und demselben Gegenstand gedacht wird, wo die positive Größe und ihr Gegensatz, die negative, sich genau vernichten. In einer Schlacht will jeder der beiden Teile siegen; das ist wahre Polarität, denn der Sieg des einen vernichtet den des anderen. Wenn aber von zwei verschiedenen Dingen die Rede ist, die eine gemeinschaftliche Beziehung außer sich haben, so haben nicht diese Dinge, sondern ihre Beziehungen die Polarität.
Angriff und Verteidigung sind Dinge von verschiedener Art und von ungleicher Stärke, die Polarität kann also nicht auf sie angewendet werden
Gäbe es nur eine Form des Krieges, nämlich den Anfall des Gegners, also keine Verteidigung, oder mit anderen Worten: unterschiede sich der Angriff von der Verteidigung bloß durch das positive Motiv, welches jener hat und diese entbehrt, der Kampf wäre aber immer ein und derselbe: so würde in diesem Kampfe jeder Vorteil des einen immer ein ebenso großer Nachteil des anderen sein, und es wäre Polarität vorhanden.
Allein die kriegerische Tätigkeit zerfällt in zwei Formen, Angriff und Verteidigung, die, wie wir in der Folge sächlich dartun werden, sehr verschieden und von ungleicher Stärke sind. Die Polarität liegt also in dem, [46] worauf sich beide beziehen, in der Entscheidung, aber nicht im Angriff und der Verteidigung selbst. Will der eine Feldherr die Entscheidung später, so muß der andere sie früher wollen, aber freilich nur bei derselben Form des Kampfes. Hat A das Interesse, seinen Gegner nicht jetzt, sondern vier Wochen später anzugreifen, so hat B das Interesse, nicht vier Wochen später, sondern jetzt von ihm angegriffen zu werden. Dies ist der unmittelbare Gegensatz; daraus folgt aber nicht, daß B das Interesse hätte, A jetzt gleich anzugreifen, welches offenbar etwas ganz Verschiedenes ist.
Die Wirkung der Polarität wird oft durch die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff vernichtet, und so erklärt sich der Stillstand des kriegerischen Aktes
Ist die Form der Verteidigung stärker als die des Angriffs, wie wir in der Folge zeigen werden, so frägt es sich, ob der Vorteil der späteren Entscheidung bei dem einen so groß ist wie der Vorteil der Verteidigung bei dem anderen; wo das nicht ist, da kann er auch nicht vermittelst seines Gegensatzes diesen aufwiegen und so auf das Fortschreiten des kriegerischen Aktes wirken. Wir sehen also, daß die anregende Kraft, welche die Polarität der Interessen hat, sich in dem Unterschiede der Stärke von Angriff und Verteidigung verlieren und dadurch unwirksam werden kann.
Wenn also derjenige, für welchen die Gegenwart günstig ist, zu schwach ist, um den Vorteil der Verteidigung entbehren zu können, so muß er sich gefallen lassen, der ungünstigeren Zukunft entgegenzugehen; denn es kann immer noch besser sein, sich in dieser ungünstigen Zukunft verteidigend zu schlagen, als jetzt angreifend, oder als Frieden zu schließen. Da nun nach unserer Überzeugung die Überlegenheit der Verteidigung (richtig verstanden) sehr groß und viel größer ist, als man sich beim ersten Anblick denkt: so erklärt sich daraus ein sehr großer Teil der Stillstandsperioden, welche im Kriege vorkommen, ohne daß man genötigt ist, dabei auf einen inneren Widerspruch zu schließen. Je schwächer die Motive des Handelns sind, um so mehr werden ihrer von diesem Unterschiede von Angriff und Verteidigung verschlungen und neutralisiert werden, um so häufiger also wird der kriegerische Akt innehalten, wie die Erfahrung dies auch lehrt.
Ein zweiter Grund liegt in der unvollkommenen Einsicht des Falles
Aber es gibt noch einen anderen Grund, welcher den kriegerischen Akt zum Stehen bringen kann, nämlich die unvollkommene Einsicht des Falles. Jeder Feldherr übersieht nur seine eigene Lage genau, die des Gegners nur nach ungewissen Nachrichten; er kann sich also in seinem Urteil dar- [47] über irren und infolge dieses Irrtums glauben, das Handeln sei am Gegner, wenn es eigentlich an ihm ist. Dieser Mangel an Einsicht könnte nun zwar ebensooft ein unzeitiges Handeln als ein unzeitiges Innehalten veranlassen und würde also an sich nicht mehr zur Verzögerung als zur Beschleunigung des kriegerischen Aktes beitragen; aber immer wird er als eine der natürlichen Ursachen betrachtet werden müssen, welche den kriegerischen Akt ohne inneren Widerspruch zum Stehen bringen können. Wenn man aber bedenkt, daß man immer vielmehr geneigt und veranlaßt ist, die Stärke seines Gegners zu hoch, als sie zu gering zu schätzen, weil es so in der menschlichen Natur ist, so wird man auch zugeben, daß die unvollkommene Einsicht des Falles im allgemeinen sehr dazu beitragen muß, die kriegerische Handlung aufzuhalten und das Prinzip derselben zu ermäßigen.
Die Möglichkeit eines Stillstandes führt eine neue Ermäßigung in den kriegerischen Akt, indem sie denselben gewissermaßen mit Zeit verdünnt, die Gefahr in ihrem Schritte hemmt und die Mittel zur Herstellung eines verlorenen Gleichgewichts vermehrt. Je größer die Spannungen sind, aus denen der Krieg hervorgegangen, je größer also seine Energie ist, um so kürzer werden diese Stillstandsperioden sein; je schwächer das kriegerische Prinzip ist, um so länger; denn die stärkeren Motive vermehren die Willenskraft, und diese ist, wie wir wissen, jedesmal ein Faktor, ein Produkt der Kräfte.
Der häufige Stillstand im kriegerischen Akt entfernt den Krieg noch mehr vom Absoluten, macht ihn noch mehr zum Wahrscheinlichkeitskalkül
Je langsamer aber der kriegerische Akt abläuft, je häufiger und länger er zum Stehen kommt, um so eher wird es möglich, einen Irrtum gutzumachen, um so dreister wird also der Handelnde in seinen Voraussetzungen, um so eher wird er damit hinter der Linie des Äußersten zurückbleiben und alles auf Wahrscheinlichkeiten und Vermutungen bauen. Was also die Natur des konkreten Falles an sich schon erfordert, einen Wahrscheinlichkeitskalkül nach den gegebenen Verhältnissen, dazu läßt der mehr oder weniger langsame Verlauf des kriegerischen Aktes mehr oder weniger Zeit.
Es fehlt also nur noch der Zufall, um ihn zum Spiel zu machen, und dessen entbehrt er am wenigsten
Wir sehen hieraus, wie sehr die objektive Natur des Krieges ihn zu einem Wahrscheinlichkeitskalkül macht; nun bedarf es nur noch eines einzigen Elementes, um ihn zum Spiel zu machen, und dieses Elementes [48] entbehrt er gewiß nicht: es ist der Zufall. Es gibt keine menschliche Tätigkeit, welche mit dem Zufall so beständig und so allgemein in Berührung stände, als der Krieg. Mit dem Zufall aber nimmt das Ungefähr und mit ihm das Glück einen großen Platz in ihm ein.
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