Die Kritik wird also, nachdem sie alles, was in das Gebiet menschlicher Berechnung und Überzeugung gehört, abgewogen hat, für den Teil, wo der tiefe geheime Zusammenhang der Dinge sich nicht an sichtbaren Erscheinungen verkörpert, den Ausgang sprechen lassen, und diesen leisen Spruch einer höheren Gesetzgebung auf der einen Seite vor dem Tumult roher Meinungen schützen, indem sie zugleich von der andern Seite die plumpen Mißbräuche zurückweist, die von dieser höchsten Instanz gemacht werden können.
Dieser Ausspruch des Erfolges muß also überall erzeugen, was die menschliche Klugheit nicht ermitteln kann, und so werden es denn die geistigen Kräfte und Wirkungen hauptsächlich sein, für die er in Anspruch genommen wird, teils weil sie sich am wenigsten mit Zuverlässigkeit beurteilen lassen, teils weil sie dem Willen selbst so nahe liegen, daß sie ihn um so leichter bestimmen. Wo Furcht oder Mut den Entschluß fortreißen, da gibt es zwischen ihnen nichts Objektives mehr abzumachen, und folglich nichts, wo Klugheit und Berechnung dem wahrscheinlichen Erfolge noch einmal begegnen könnte.
Jetzt müssen wir uns noch einige Betrachtungen über das Instrument der Kritik erlauben, nämlich über die Sprache, deren sie sich bedient, weil diese dem Handeln im Kriege gewissermaßen zur Seite bleibt; denn die prüfende Kritik ist ja nichts als die Überlegung, welche dem Handeln vorhergehen soll. Wir halten es darum für etwas höchst Wesentliches, daß die Sprache der Kritik denselben Charakter habe, den das Überlegen im Kriege haben muß, sonst würde sie aufhören, praktisch zu sein, und der Kritik keinen Eingang in das Leben verschaffen.
Wir haben in unserer Betrachtung über die Theorie der Kriegführung gesagt, daß sie den Geist der Führer im Kriege erziehen oder vielmehr bei seiner Erziehung leiten soll, daß sie nicht bestimmt ist, ihn mit positiven Lehren und Systemen auszurüsten, die er wie Instrumente des Geistes gebrauchen könnte. Ist aber im Kriege zur Beurteilung eines vorliegenden Falles niemals die Konstruktion wissenschaftlicher Hilfslinien notwendig [141] oder auch nur zulässig, tritt die Wahrheit da nicht in systematischer Gestalt auf, wird sie nicht mittelbar, sondern unmittelbar durch den natürlichen Blick des Geistes gefunden: so muß es auch in der kritischen Betrachtung also sein.
Zwar haben wir gesehen, daß sie überall, wo es zu weitläuftig sein würde, die Natur der Dinge festzustellen, sich auf die in der Theorie davon ausgemachten Wahrheiten stützen muß. Allein so wie im Kriege der Handelnde diesen theoretischen Wahrheiten mehr gehorcht, indem er ihren Geist in den seinigen aufgenommen hat, als indem er sie wie ein äußeres steifes Gesetz betrachtet: so soll auch die Kritik sich ihrer nicht wie eines fremden Gesetzes oder einer algebraischen Formel bedienen, deren neue Wahrheit für die Anwendung gar nicht aufgeschlossen zu werden braucht, sondern sie soll diese Wahrheit selbst immer durchleuchten lassen, indem sie nur die genaueren und umständlicheren Beweise der Theorie überläßt. So vermeidet sie eine geheimnisvolle dunkle Sprache und bewegt sich in einfacher Rede, in einer lichten, d. i. immer sichtbaren Vorstellungsreihe fort.
Freilich wird dies nicht immer vollkommen zu erreichen, aber es muß das Streben der kritischen Darstellung sein. Sie muß zusammengesetzte Formen der Erkenntnis sowenig als möglich brauchen und nie sich der Konstruktion wissenschaftlicher Hilfslinien wie eines eigenen Wahrheitsapparates bedienen, sondern alles durch den natürlichen freien Blick des Geistes ausrichten.
Aber dieses fromme Bestreben, wenn wir uns den Ausdruck erlauben dürfen, ist leider bisher in den wenigsten kritischen Betrachtungen herrschend gewesen, die meisten sind vielmehr von einer gewissen Eitelkeit zum Ideenprunk fortgezogen worden.
Das erste Übel, worauf wir häufig stoßen, ist eine unbehilfliche, ganz unzulässige Anwendung gewisser einseitiger Systeme als eine förmliche Gesetzgebung. Aber es ist nie schwer, die Einseitigkeit eines solchen Systems zu zeigen, und das braucht man nur zu tun, um ein für allemal seinen richterlichen Spruch verworfen zu haben. Man hat es hier mit einem bestimmten Gegenstande zu tun, und da die Zahl möglicher Systeme am Ende doch nur klein sein kann, so sind sie an sich auch nur das kleinere Übel.
Viel größer ist der Nachteil, der in dem Hofstaat von Terminologien, Kunstausdrücken und Metaphern liegt, den die Systeme mit sich schleppen, und der wie loses Gesindel, wie der Troß eines Heeres, von seinem Prinzipal loslassend, sich überall umhertreibt. Wer unter den Kritikern sich nicht zu einem ganzen System erhebt, entweder weil ihm keins gefällt, oder weil er nicht so weit gekommen ist, eins ganz kennenzulernen, der will wenigstens ein Stückchen davon gelegentlich wie ein Lineal anlegen, um zu zeigen, wie fehlerhaft der Gang des Feldherrn war. Die meisten [142] können gar nicht räsonieren, ohne ein solches Fragment wissenschaftlicher Kriegslehre hier und da als Stützpunkt zu brauchen. Die kleinsten dieser Fragmente, die in bloßen Kunstwörtern und Metaphern bestehen, sind oft nichts als Verschönerungsschnörkel der kritischen Erzählung. Nun liegt es in der Natur der Sache, daß alle Terminologien und Kunstausdrücke, welche einem Systeme angehören, ihre Richtigkeit, wenn sie dieselbe wirklich hatten, verlieren, sobald sie, herausgerissen aus demselben, wie allgemeine Axiome gebraucht werden sollen, oder wie kleine Wahrheitskristalle, die mehr Beweiskraft haben als die schlichte Rede.
So ist es denn gekommen, daß unsere theoretischen und kritischen Bücher statt einer schlichten, einfachen Überlegung, bei welcher der Autor wenigstens immer weiß, was er sagt, und der Leser, was er liest, wimmelnd voll sind von diesen Terminologien, die dunkle Kreuzpunkte bilden, an denen Leser und Autor voneinander abkommen. Aber sie sind oft noch viel Schlimmeres; sie sind oft hohle Schalen ohne Kern. Der Autor selbst weiß nicht mehr deutlich, was er dabei denkt, und beruhigt sich mit dunklen Vorstellungen, die ihm bei der einfachen Rede selbst nicht genügen würden.
Ein drittes Übel der Kritik ist der Mißbrauch historischer Beispiele und das Prunken mit Belesenheit. Was die Geschichte der Kriegskunst ist, darüber haben wir uns schon ausgesprochen, und wir werden unsere Ansicht über Beispiele und über die Kriegsgeschichte überhaupt noch in besonderen Kapiteln entwickeln. Ein Faktum, welches bloß im Fluge berührt wird, kann zur Vertretung der entgegengesetztesten Ansichten gebraucht werden, und drei oder vier, die aus den entferntesten Zeiten oder Ländern, aus den ungleichartigsten Verhältnissen herbeigeschleppt und zusammengehäuft werden, zerstreuen und verwirren das Urteil meistens, ohne die mindeste Beweiskraft zu haben; denn wenn sie bei Lichte betrachtet werden, so ist es meistens nur Plunder, und die Absicht des Autors, mit Belesenheit zu prunken.
Was kann aber mit diesen dunklen, halbwahren, verworrenen, willkürlichen Vorstellungen für das praktische Leben gewonnen werden? So wenig, daß die Theorie vielmehr dadurch, solange sie besteht, ein wahrer Gegensatz der Praktik und nicht selten der Spott derer geworden ist, denen im Felde eine große Tüchtigkeit nicht abzusprechen war.
So hätte es aber unmöglich sein können, wenn sie in einfacher Rede und natürlicher Betrachtung der Gegenstände, welche die Kriegführung ausmachen, dasjenige festzustellen gesucht hätte, was sich feststellen läßt, wenn sie ohne falsche Ansprüche und ungehörigen Pomp wissenschaftlicher Formen und historischer Zusammenstellungen dicht bei der Sache geblieben und mit Leuten, die im Felde durch den natürlichen Blick ihres Geistes die Dinge leiten sollen, Hand in Hand gegangen wäre.
Sechstes Kapitel: Über Beispiele
Historische Beispiele machen alles klar und haben nebenher in Erfahrungswissenschaften die beste Beweiskraft. Mehr als irgendwo ist dies in der Kriegskunst der Fall. Der General Scharnhorst, welcher in seinem Taschenbuche über den eigentlichen Krieg am besten geschrieben hat, erklärt die historischen Beispiele für das Wichtigste in dieser Materie, und er macht einen bewunderungswürdigen Gebrauch davon. Hätte er den Krieg, in welchem er fiel, überlebt, so würde der vierte Teil seiner umgearbeiteten Artillerie uns einen noch schöneren Beweis gegeben haben, mit welchem Geist der Beobachtung und Belehrung er die Erfahrung durchdrang.
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