Ich sollte eines Besseren belehrt werden, denn ich musste feststellen, dass ich so gut wie keine Ahnung hatte. Und bald wurde mir klar, dass Kelley nicht nur weit mehr über Ernährung wusste als ich, sondern viel mehr als jeder andere, den ich kannte. Also folgte ich Kelleys Empfehlungen. Es ging mir nicht von heute auf morgen besser, aber im Laufe eines Jahres ließen meine Allergiesymptome langsam nach und endlich brauchte ich die Medikamente nicht mehr, von denen ich mein ganzes Leben lang abhängig gewesen war.
Und wenn auch meine Symptome nicht gleich am Anfang verschwunden waren, hatte ich mich doch ziemlich schnell besser gefühlt; ich hatte bald mehr Energie, war besser gelaunt und widerstandsfähiger gegen Erkältungen und Grippe. Nach ein paar Monaten stiegen meine Leistungsfähigkeit, meine Energie und mein Wohlbefinden auf ein Niveau an, das ich vorher nie erlebt hatte. Ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass ich mich je so gut fühlen könnte. Ich war der lebende Beweis für Kelleys Behauptung, dass die meisten Menschen in unserer Industriegesellschaft keine Ahnung haben, was gute Gesundheit bedeutet, weil sie sie nie wirklich erlebt haben.
Ich war überzeugt, dass er etwas Bahnbrechendem auf der Spur war, und wollte so viel wie möglich über die Theorie erfahren, auf der sein Programm aufbaut. Also flog ich nach Chicago, um an einem seiner Wochenendseminare teilzunehmen. Es war beeindruckend, was er dort alles präsentierte. Vor allem ging es darum, wie sich mithilfe des autonomen Nervensystems der individuelle Ernährungsbedarf ermitteln lässt. Durch seine Erfahrung mit seiner Frau und mit anderen Patienten war Kelley zufällig klar geworden, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Ernährung brauchen. Dann lernte er von Roger Williams und anderen Forschern Näheres über die biochemische Individualität.
Aber diese Erkenntnisse ließen sich zuerst nicht praktisch umsetzen. Er musste selbst noch eine systematische Methode entwickeln, um diesen individuellen Bedarf zu bestimmen. Er brauchte zum Beispiel eine zuverlässige Methode, um vorherzusagen, ob es einem Patienten eher bei einer vegetarischen oder bei einer fleischreichen Ernährung besser gehen würde. Oder ob er eher Kalzium, eher Kalium oder andere Nährstoffe benötigte.
An diesem Punkt wandte sich Kelley den Arbeiten zweier der führender Pioniere unter den Ernährungswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts zu: Francis Pottenger und Roger Lee. Pottenger war ein Arzt, der seine Patienten mit Ernährung „behandelte“, und Lee war Zahnarzt und Gründer der Firma Standard Process, eines der bekanntesten Vitaminproduzenten der Welt.
In den Dreißiger- und Vierzigerjahren machten beide entscheidende Entdeckungen über das autonome Nervensystem. Sie erkannten, dass der Ernährungsbedarf von Mensch zu Mensch anders ist und dass sich aus dem Zustand des autonomen Nervensystems wichtige Schlüsse ziehen lassen, welche Nahrungsmittel und welche Nährstoffe für den Einzelnen ideal sind.
Das autonome Nervensystem
Ein paar Worte über das autonome Nervensystem: Es wird auch als die zentrale Steuerung des Stoffwechsels bezeichnet, weil es die unbewussten Vorgänge im Körper kontrolliert, die wir nicht bewusst beeinflussen können. Dazu zählen zum Beispiel der Herzschlag, die Arbeit des Verdauungssystems, die Regeneration von Gewebe, die Regulation der Körpertemperatur und des Immunsystems sowie zahllose andere Funktionen.
Es ist in zwei Zweige aufgeteilt, den sympathischen und den parasympathischen Zweig. Jeder Zweig steuert bestimmte Bereiche und ist dafür zuständig, dort die Aktivität zu steigern oder sie zu verringern. Mit ihren gegensätzlichen Wirkungen regulieren sie gemeinsam Zweige die Stoffwechselprozesse.
So regt der Sympathikus zum Beispiel den Herzschlag an, während er durch den Parasympathikus reduziert wird. Beim Verdauungssystem ist es umgekehrt, hier regt der Parasympathikus die Aktivitäten an, der Sympathikus drosselt sie.
Wenn Sie zum Beispiel während des Essens plötzlich großem Stress ausgesetzt werden, arbeitet Ihr Verdauungssystem nicht weiter, weil der Sympathikus aktiviert wird. Das Blut wird zu den Muskeln umgeleitet, der Puls steigt an und diverse Systeme werden aktiviert, um auf den Stress zu reagieren.
Und jetzt kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Bei den meisten Menschen ist einer der beiden Zweige von Natur aus stärker, sie werden entweder mehr vom Sympathikus oder mehr vom Parasympathikus beeinflusst. Dieser Einfluss wirkt sich auf alle möglichen körperlichen und psychischen Eigenschaften des Menschen aus und prägt ihn entsprechend.
Nährstoffe und das Gleichgewicht im autonomen Nervensystem
Schon Pottenger und Lee war klar, dass nur bei einem Gleichgewicht zwischen beiden Zweigen die Gesundheit gut sein könne. Ihnen war aber auch aufgefallen, dass Nährstoffe das autonome Nervensystem stark beeinflussen und Gleichgewicht nur bei richtiger Wahl der Nährstoffe erreicht wird. Denn Nährstoffe wirken sich auf die Zweige des autonomen Nervensystems unterschiedlich aus. Einige regen den Sympathikus an und stärken ihn, während sie den Parasympathikus schwächen. Andere Nährstoffe regen dagegen den Parasympathikus an und schwächen den Sympathikus.
Pottenger war der Erste, der bestimmte Gesundheitsprobleme damit behandelte, dass er versuchte das autonome Nervensystem ins Gleichgewicht zu bringen. Er verwendete Kalzium und Kalium, um damit das Gleichgewicht zu erreichen. Lee ging noch eine Schritt weiter, führte noch andere Krankheiten auf Ungleichgewicht im autonomen Nervensystem zurück und erweiterte Pottengers Konzept, indem er noch andere Nährstoffe einsetzte.
Ernährung zum Aufbau der Gesundheit
Aber letztendlich war es Kelley, der den entscheidenden Schritt vollzog und die individuelle Situation des Stoffwechsels über den Zustand des autonomen Nervensystems bestimmte. Dabei schuf er nebenbei eine völlig neue Sicht der Zusammenhänge, einen Paradigmenwechsel: weg vom konventionellen, symptomorientierten Ansatz der Medizin und hin zu einer neuen Art umfassender oder „ganzheitlicher“ Heilung. So hatten zum Beispiel selbst die Pioniere Pottenger und Lee ihre Nährstoffe genauso eingesetzt, wie Ärzte Medikamente einsetzen und wie die meisten heutigen Ernährungstherapeuten immer noch Nährstoffe verwenden: um die Symptome bestimmter Krankheiten zu behandeln.
Kelley hatte ganz andere Vorstellungen. Er ging davon aus, dass die Konzentration auf einzelne Gesundheitsprobleme bestenfalls eine kurzfristige Besserung bringen würde. Da alle Körpersysteme voneinander abhängen, war Kelley davon überzeugt, dass mit der Ernährung die Gesundheit aufgebaut und nicht Krankheiten behandelt werden sollten.
Er glaubte mit anderen Worten nicht daran, dass es sinnvoll sei, einzelne Nährstoffe zur Behandlung dieses oder jenes Problems einzusetzen. Er fand es viel sinnvoller, dem Körper genau die „Rohstoffe“ anzubieten, die er zur Schaffung von Gleichgewicht und Effizienz auf allen Ebenen brauchen würde. Kelley war davon überzeugt, dass der Körper – wenn er alles bekäme, was er braucht, also das richtige Essen und die richtige Nährstoffmischung – sich selbst viel besser heilen könnte als jeder zusammengestückelte Therapieplan eines Therapeuten. Er nannte seinen Ansatz „unspezifische Stoffwechseltherapie“.
Gegen Ende der Siebzigerjahre war Kelley der erste Forscher, der das autonome Nervensystem als Grundlage für die Einteilung von Stoffwechseltypen nutzte und jedem Typ genaue Ernährungsempfehlungen zuordnete. Diese Empfehlungen reichten von vegetarischer bis zu fleischreicher Ernährung, mit allen möglichen Nuancen. Sie enthielten auch unterschiedliche Kombinationen von Vitaminen und Mineralien, die für die unterschiedlichen Abweichungen vom Stoffwechselgleichgewicht zusammengestellt wurden.
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