Kokain gibt es auch schon ziemlich lange. Aber man ist damit nicht immer so umgegangen, wie man es heute tut. 1863 hat man in Italien Kokain dazu verwendet, einen Wein herzustellen, den sogar der Papst so sehr liebte, dass er von seiner Eigenschaft, „den göttlichen Funken der Seele zu erwecken“, schwärmte – oder so ähnlich. Zwanzig Jahre später bezeichnete Sigmund Freud, der Vater der modernen Psychologie, Kokain als „magisch“ und konnte gar nicht genug von dem Zeug bekommen – er blieb noch nicht einmal beim Wein. Er pfiff sich das Rohweiß rein – schnupfte es, spritzte es, pinselte es sich auf die Haut. Damals war Kokain eine Wunderdroge, ein Anregungsmittel und Schmerzkiller, ein Stoff, der alles von der Impotenz bis zur Masturbation heilte und als Betäubungsmittel bei Operationen verwendet wurde. Es gab sogar Werbeanzeigen, in denen Kinder für Kokainpastillen zum Preis von fünfzig Cent warben: „Die helfen sofort!“ Ein Typ in Atlanta fing ebenfalls an, diesen Wein herzustellen, aber dann kam die Prohibition, also nahm er den Alkohol heraus und nannte es Coca-Cola. Irgendwann, etwa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, wurde Kokain verboten und zu einem ernsthaften Problem. Es war aber immer noch erhältlich, wenn man die richtigen Leute kannte.
Das alles und noch viel mehr war gerade im Gange, als meine Großeltern Curtis und Beulah Jackson von Ackerson in South Carolina nach South Jamaica in Queens zogen. Aber so etwas wie Crack gab es noch nicht. Das kam erst später.
Damals war Queens, das groß genug ist, um als Amerikas fünftgrößte Stadt durchzugehen, ein Zufluchtsort für relativ erfolgreiche Schwarze. Die Situation in Harlem, dem ursprünglichen Negermekka der Stadt, verschlechterte sich unter dem Druck der vielen Schwarzen, die aus dem Süden kamen, um in der Großstadt ihr Glück zu versuchen. Die ehemaligen Sklaven beschlossen, sich von ihrer kleinen Ecke in New York aus aufzumachen, ließen Lower Manhattan hinter sich (das sogar damals schon viel zu teuer für die meisten Menschen war) und kamen erst auf der anderen Seite des Flusses wieder zur Ruhe – unter den Bäumen, die in Brooklyn wuchsen. Bald jedoch erwies sich selbst Brooklyn als viel zu nah am Wahnsinn des innerstädtischen Daseinskampfs. So kam es, dass sich Queens zur Heimat einiger recht bemerkenswerter Neger entwickelte. Im ersten Abschnitt des zwanzigsten Jahrhunderts lebte dort Lewis Latimer, der Erfinder, der die von seinem Mentor Thomas Edison geschaffene Glühbirne weiterentwickelte, indem er den Glühfaden aus Kohlenstoff erfand und patentieren ließ. Später, in den Fünfzigerjahren, war Queens die Heimat von Jazzgrößen wie John Birks „Dizzy“ Gillespie, Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, William „Count“ Basie und dem Baseballgiganten Jackie Robinson. Queens ist nur einen Steinwurf von Brooklyn entfernt, das man auch „King’s County“ nennt, und das Einzige, was die beiden Viertel voneinander trennt, sind die von Menschenhand gezogenen Striche auf der Landkarte. Queens ist jedoch ganz anders bebaut als Brooklyn. Da es weiter im Inland gelegen ist, wurde es viel lockerer und in einem weniger urbanen Stil geplant und besiedelt als Brooklyn oder Manhattan, welchen im Großen und Ganzen ein Raster zugrunde liegt. Die fast dörfliche Landschaft von Queens mit ihren niedrigen Brücken und dem Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln machte es zu einem großartigen Zufluchtsort für diejenigen, die einen leichten Zugang zur Großstadt wünschten, aber ohne die Gefahren eines dauerhaften Wohnsitzes im Kern des verrotteten Big Apple.
Meine Großeltern hatten neun Kinder: Curtis Jr., Geraldine, Cynthia, Jennifer, Harold, Johnny, Karen und Sabrina, meine Mutter. Zu der Zeit, als meine Mutter geboren wurde, 1960, begann Queens zu verdrecken. Es war nicht länger der schnelle Rückzugsort vor der Verkommenheit der Stadt. 1964 wurde der Bezirk zum nationalen Brennpunkt der Aufmerksamkeit, und das nicht nur, weil Queens Gastgeber der Weltausstellung war oder weil dort das Shea-Stadion eröffnet wurde, sondern wegen dem, was mit Catherine „Kitty“ Genovese geschah. Sie wurde ermordet. Zweieinhalb Meilen vom Haus meiner Großeltern entfernt stach man über eine halbe Stunde lang insgesamt siebzehnmal mit einem Jagdmesser auf sie ein, während achtunddreißig Menschen von ihren Wohnungen aus zusahen. Nach diesem Ereignis führte die Stadt das 911-Notrufsystem ein. Die Zahl der Weißen, die in die Bezirke Nassau und Suffolk auf Long Island zogen, stieg aufgrund der vielen Schwarzen, die herüberkamen, enorm an. Das ist das Queens, das ich kenne. An alles andere kann ich mich entweder noch aus der Schulzeit erinnern, oder ich lese darüber in Zeitschriften, wenn Leute über den Ort schreiben, an dem ich aufgewachsen bin.
Den Worten meiner Mutter zufolge geschah das Unmögliche, als sie fünfzehn Jahre alt war – am 6. Juli 1975, um genau zu sein. Sie brachte mich unbefleckt zur Welt, genau so, wie es Maria mit Jesus gemacht hat. Sie nannte mich ihrem Vater zu Ehren Curtis James Jackson III., rief mich aber Boo-Boo. Der einzig wahre und echte Curtis Jackson war und ist immer noch mein Großvater; selbst mein Onkel Curtis Jr. musste sich nach einer Weile Star nennen lassen. Wenn ich meine Mutter nach meinem Vater fragte, sagte sie immer: „Du hast keinen Vater. Ich bin deine Mutter und dein Vater.“
Obwohl ich nicht wusste, was das bedeutete, wusste ich doch, was es für mich hieß. Wenn man als Kind in meinem Viertel aufwuchs, dann war es ungewöhnlich, beide Elternteile um sich zu haben. Entweder hatte man einen Elternteil, oder man hatte Großeltern. Soweit ich das beurteilen konnte, war ich ziemlich gut dran. Und wenn es darauf ankam – egal, ob es nun um Liebe, Geld oder Autorität ging –, dann war meine Mama zur Stelle. Das war alles, was für mich zählte.
Ich kann mich daran erinnern, dass meine Mutter mehr mit anderen Frauen ausging als mit Männern. Sie hatte da so eine Freundin namens Tammy, die immer bei uns war, also fragte ich meine Großmutter einmal: „Warum sieht man Mama immer nur mit Tammy?“ Meine Großmutter sagte: „Das solltest du besser deine Mutter fragen.“ Von da an ließ ich die Finger von dem Thema. Ich war jung, aber ich war nicht dumm. Ich hatte früh gelernt, dass es, was meine Mutter betraf, Sachen gab, über die man sprach, und Sachen, über die man nicht sprach.
Meine Mama war, mit einem Wort, hart. Sie war richtig aggressiv. Als Erziehungsberechtigte war sie stur. Wenn sie mich zu etwas motivieren wollte, war sie noch strenger. Sie ermutigte mich, Dinge zu tun, von denen ich wusste, dass ich sie ohne meine Mutter im Rücken gar nicht tun könnte. Einmal, als ich fünf Jahre alt war, kam ich weinend in das Haus meiner Großeltern gerannt, weil ich mich mit einigen Jungs aus der Nachbarschaft geprügelt hatte.
Wir hatten mit Murmeln gespielt, und als einer der Jungs einen wirklich einfachen Schuss verbockte, lachte ich ihn aus. Er muss einen schlechten Tag gehabt haben, denn er wurde richtig wütend und wollte mit mir kämpfen. Weil er viel größer war als ich, schlugen sich all die anderen Jungs auf seine Seite, um mich zu verdreschen. Ich dachte, das kann doch nicht ihr Ernst sein. Dieser Junge hatte die zulässige Höchstgröße für Fünfjährige bereits überschritten. Er war so groß, dass man ihn leicht auf acht oder neun geschätzt hätte. Wenn wir an einer Boxmeisterschaft teilgenommen hätten, dann wäre er mindestens drei Gewichtsklassen über mir gewesen. Es war also nicht so, dass er Hilfe nötig gehabt hätte. Mir blieb also gar nichts anderes übrig: Ich steckte meine Prügel ein und ging weinend nachhause.
Als ich heimkam, war meine Mutter angepisst. Sie fragte: „Warum zum Teufel weinst du?“
Ich erklärte es ihr. „Da ist ein Junge“, sagte ich, „der ist so groß wie ein ganzer Block, vielleicht sogar zwei. Er hat mich verhauen und war noch nicht mal ganz fertig mit mir, als ich abhauen konnte. Wenn es dir also nichts ausmacht, würde ich gern den Rest meines fünften Lebensjahrs im Haus verbringen.“
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