Hier ist Paul McCartney aufgewachsen, lernte von seinem Vater zu musizieren und komponierte erste eigene Lieder: No. 20 Forthlin Road in Liverpool, im Stadtteil Allerton. Das Haus ist heute ein Museum und gehört dem National Trust.
Der Beatles-Shop in der Mathew Street, Liverpool. Ganz in der Nähe ist auch der legendäre Cavern Club und das frühere NEMs-Musikgeschäft von Brian Epstein.
Neue Liebe: Paul McCartney und Nancy Shevell bei der Preisverleihung der Critics Choice Awards in Hollywood am 15. Januar 2010.
Rex Features/picturedesk.com
Kapitel 1
Paul McCartney ist fast zu Hause.
Er ist in Liverpool, jener Stadt, in der er geboren wurde und seine Kindheit und Jugend verbrachte. Mehr noch, er ist in Anfield, jenem Stadtteil, in dem sein Vater aufwuchs, in dem Ende des 19. Jahrhunderts sein Großvater lebte, arbeitete und seine Familie ernährte. Kein Wunder, dass Paul so strahlt. In wenigen Wochen wird er seinen 66. Geburtstag feiern, und in diesem Augenblick ist er ganz nahe an seinen Wurzeln. Umgeben von seiner Familie. Unter Freunden. Auf einer großen Feier. Großvater Joe McCartney hätte es damals, kaum eineinhalb Kilometer entfernt, genauso krachen lassen. Und Vater Jim McCartney ebenfalls. Jetzt, im neuen Jahrtausend, macht sein Sohn dasselbe.
Seine Wangen glühen. Seine Augen funkeln. Er öffnet den Mund, legt den Kopf in den Nacken und stößt ein helles Freudengeheul aus. Ahhhhhhhh!
Zehntausend Stimmen antworten ihm.
Paul trägt einen schwarzen Anzug mit hochgestelltem Kragen und darunter ein lockeres, weißes Hemd. Sein Haar ist übernatürlich braun, und er sieht deswegen, wenn auch auf leicht surreale Weise, jünger aus. Vor allem aber hat er seinen Höfner-Bass umhängen, und das allein genügt, um ihn so alterslos erscheinen zu lassen, wie er sich wahrscheinlich fühlt. Er weiß, wenn man sich Paul McCartney mit geschlossenen Augen vorstellt, dann unwillkürlich immer mit diesem Instrument. Der Höfner-Bass mit dem geigenförmigen Korpus zählt zu den ausdrucksstärksten Symbolen der Rockmusik. Er ist sein Wahrzeichen, sein Excalibur. Dabei ist das Instrument nicht unbedingt der Schlüssel zu seiner Vergangenheit. Aber die Tatsache, dass er es noch hat und noch so häufig in der Öffentlichkeit spielt, ist durchaus bedeutsam.
Der Höfner liegt ihm wie immer leicht in der Hand und schwingt locker vor seinen Hüften, als er sich zur Band umdreht und ein paar Töne anschlägt. Hinter ihm tupft der Schlagzeuger zart auf die Becken des Hi-Hats und baut einen Rhythmus auf. Paul wirbelt auf dem Absatz herum, tritt ans Mikrofon und brüllt den zigtausend Gesichtern, die sich vor ihm im Stadion aufreihen, eine Begrüßung entgegen:
For goodness sake – I got that hippy hippy shake …
Eine Explosion aus Schlagzeug, Gitarren und Keyboards prallt gegen den Lärm, der vom Publikum gegen die Bühne brandet, und es ist dieser Augenblick, an dem Paul wirklich nach Hause kommt. Er hat diesen Song nicht geschrieben, aber er hat ihn sich vor beinahe fünfzig Jahren angeeignet und damals zusammen mit ein paar Freunden in einem feuchten Keller vor Jugendlichen aus der Nachbarschaft immer wieder gespielt. Damals sprach noch niemand von Geschichte, und niemand dachte an Symbole oder Legenden. Aber was hätte das damals auch bedeutet? Sie hatten drei Akkorde, ein Schlagzeug und irgendeinen Schwachsinnstext über den Hippy Shake-Shake, für den man mal nach links und mal nach rechts schütteln musste. Und mehr brauchten sie nicht, das war alles, worauf es ankam.
So fing es an für Paul und seine Freunde. Und dann ging es richtig los. Erst kam ein größerer Keller, dann ein nach Bier stinkender Club in Hamburg. Ein Tanzsaal, eine kleine Halle und schließlich größere Hallen. Sie reisten nach London, nach Paris, nach New York. Und irgendwann um die ganze Welt. Bis die anderen drei verschwunden waren und nur er und Linda zurückblieben. Nun sorgte Paul dafür, dass sie mit ihm kam, auf die Bühne, um sich wie er von dieser Welle der Energie tragen zu lassen. Und natürlich gab es auch noch den Alltag. Das Haus und die Kinder und all das, aber die Scheinwerfer und die Kameras und die Musik in den Studios gingen nie aus. Und immer war da diese elektrisierende Druckwelle von Gitarren und Schlagzeug und Keyboards, zusammen mit seiner sanften, klaren, durchdringenden Stimme.
Nun steht er dort oben, wie eine Sprungfeder angespannt, seine Finger tanzen über das Griffbrett des Höfner-Basses, seine Stimme dröhnt, denn er will seine Geschichte erzählen. Nicht unbedingt mit Worten. Sicher, Paul spricht gern über sich selbst und schiebt die Fakten und Ideen hin und her, bis sie seiner sich stets wandelnden Vorstellung von Realität entsprechen. Aber das Herz dieses Mannes liegt in seiner Musik. Daher findet man nur dort die echte Wahrheit. Man kann sie hören. Jetzt ist „Hippy Hippy Shake“ vorbei, und vieles andere wird noch kommen. Sein ganzes Leben breitet er dort oben auf der Bühne aus und lässt es vor den Augen seines Publikums vorbeiziehen.
Es folgt „Jet“ – Paul und Linda zu ihren besten Zeiten. Jung, verliebt, von Kindern und Hunden umgeben und komplett und glücklich zugekifft. Mit einem Ruck geht die Zeitreise mit „Drive My Car“ ein paar Jahre zurück, John und Paul drängen sich um ein Klavier und verweben eine kleine Idee und ein bisschen Überheblichkeit zu einem herrlich geschmeidigen Rocksong über Lust, Geld und Macht. I got no car and it’s breaking my heart / But I found a driver, and that’s a start! Wie lange hat es gedauert, bis der Song fertig war – zwei Stunden? Inklusive Teepause? Wieder dreißig Jahre weiter nach vorn, nun kommt „Flaming Pie“, und darin geht es um dieselbe schicksalsträchtige Partnerschaft. Paul ärgert sich ein wenig über jene, die ihn für den Juniorpartner in diesem Songwriterteam gehalten haben: Ich bin der Kerl auf der brennenden Torte! Und um zu beweisen, dass er es immer noch draufhat, folgt nun seine neue Single „Dance Tonight“, die vielleicht düsterste Einladung zum Boogie, die es je gab.
Nun ein Augenblick des Gedenkens an George, mit einer Fassung von „Something“, bei der eine Ukulele den Ton angibt. Es ist rührend und gleichermaßen seltsam: Eine Ukulele? Bei seinen eigenen Klassikern „Penny Lane“ und „Hey Jude“ geht Paul wesentlich ernsthafter zu Werke. Und noch ernster wird es bei „Yesterday“, diesem Geschenk des eigenen Unterbewusstseins, dessen Melancholie von jenem tief empfundenen Verlust der Mutter gespeist wurde, der ihn als Teenager traf und dazu brachte, sich an seine Gitarre zu klammern und sie nie wieder loszulassen. „Let It Be“ erzählt eine andere Version derselben Geschichte. Mother Mary erscheint hier höchstpersönlich. Dann noch einmal eine Verbeugung vor John Lennon, die viel komplexer gelagert ist – angesichts all dessen, was geschah und was nicht geschah, angesichts der Stelle, an der er heute steht und singt, und angesichts der Tatsache, dass Yoko Ono im Publikum sitzt, wie er weiß, und jede seiner Bewegungen genau beobachtet.
I read the news today, oh boy …
Das hat er noch nie versucht, eine Liveversion von „A Day In The Life“, dem vielleicht kompliziertesten Song, den die Beatles je aufgenommen haben. In vielerlei Hinsicht ist es der Höhepunkt und das Herzstück seiner Zusammenarbeit mit John Lennon, die übergangslose Verquickung der existenziellen Düsternis des einen mit der surrealen Spaßeslust des anderen. Die Kameras haben Yoko in der Menge ausgemacht; ein schwarzer Zylinderhut thront elegant auf ihrem rabenschwarzen Haar, und sie lächelt und nickt, als die Livemusik auf der Bühne ausgeblendet wird und eine Aufnahme des berühmten Orchesterlärms ertönt, das über die überforderten Lautsprechertürme im Stadion zu einem nicht ganz überzeugenden Crescendo anschwillt. Eine kleine Drehung, und die Band setzt wieder ein, mit dem hymnischen Refrain von „Give Peace A Chance“. All we are saying … Nun strahlt Yoko und klatscht mit, und Paul macht auffordernde Handbewegungen, damit die Menge noch lauter mitsingt. Die Liverpooler sind nun außer sich vor Begeisterung, sie brüllen und winken zu Ehren eines gefallenen Helden, eines Heiligen, eines Märtyrers, der für die gute Sache eintrat. Und genau das wollte Paul auch, selbst wenn ihn diese Verehrung gleichzeitig ein wenig ärgerte.
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