Krist Novoselic war zwei Jahre älter als Kurt, und er ist der einzige, der Nirvanas gesamte Entwicklung von einer kleinen Lokal-Band aus Aberdeen bis zum Welterfolg miterlebte. Krist wusste, wie talentiert und sensibel Kurt war. Vielleicht schon deshalb, weil er ihm mit seiner Körpergröße von fast zwei Metern um einen Kopf überragte, erschien er mir immer wie der große Bruder, den Kurt nie gehabt hatte, nur ohne die typische Rivalität, die oft unter Geschwistern herrscht.
Bei unseren Gesprächen für dieses Buch äußerte Krist wiederholt: „Es ist immer schön, über Kurt zu reden.“ Krist ist inzwischen über fünfzig, und sein noch verbliebenes Haar wird langsam grau, aber er hat sich eine beinahe kindliche Unschuld und einen großen Idealismus bewahrt, was Musik und Politik betrifft. Auch heute klingt er immer noch bestrebt, seinen alten Bandkollegen zu beschützen. „Manche Leute dachten, Kurt sei faul, weil er keine Lust hatte, bei seinem Job als Hausmeister die Klos zu putzen, aber wenn es um Kunst und Musik ging, hat er stets unglaublich hart gearbeitet.“
Kurt zählte zu den wenigen Leadgitarristen, die eine Linkshänder-Gitarre mit normaler Saitenbespannung spielten, von daher hatte er als Musiker wenige Vorbilder. (Was die Musik betraf, hatte er sich fast alles selbst beigebracht; Noten lesen lernte er nie.) Manche Gitarristen wie Duane Allman und David Bowie, die eigentlich Linkshänder waren, spielten trotzdem wie Rechtshänder. Kurt, wie auch Jimi Hendrix, schrieb zwar mit rechts, spielte aber mit links.
Krist erinnert sich, dass Kurt immer damit beschäftigt war, Texte und Musik zu schreiben und zu überarbeiten. Als bildender Künstler war er ähnlich produktiv: „Eines Tages besuchte ich ihn in Aberdeen, und er zeigte mir selbstgezeichnete pornografische Comics, bei denen er einen Hund, Scooby Doo, mitspielen ließ. Sie waren echt gut! Kurt hat immer an Skulpturen, Bildern, Zeichnungen gearbeitet. Er hätte auch zur Kunstakademie gehen können. Er zog schließlich nach Olympia, weil in Aberdeen nichts los war.“ Courtney ergänzt: „Das war für ihn zwangsläufig. Erst in Olympia kam er mit Menschen in Kontakt, die nicht nur auf die Melvins und Black Sabbath standen, sondern auch noch auf andere Musik.“
Olympia liegt achtzig Kilometer östlich von Aberdeen und ist mit seinen rund 50.000 Einwohnern etwas größer als Kurts Heimatstadt. Das dortige Evergreen State College ist eine progressive Hochschule, die auf Noten verzichtet; zu den Absolventen zählen die Underground-Cartoonistin Lynda Barry und der Simpsons-Schöpfer Matt Groening ebenso wie Tobi Vail und Kathleen Hanna von Bikini Kill, Carrie Brownstein von Sleater-Kinney, der Sub-Pop-Gründer Bruce Pavitt und Calvin Johnson, der K Records gründete und zudem bei der einflussreichen Lokal-Band Beat Happening sang und Gitarre spielte.
Dass Olympia für den amerikanischen Punk eine so entscheidende Rolle spielte, lag auch am Radiosender des Evergreen-Colleges, KAOS, zu dessen Richtlinien es zählte, dass 80 Prozent der gespielten Songs von Indie-Labels stammen mussten. Hier trafen sich viele der späteren Schlüsselfiguren der Indie-Szene; Johnson und Pavitt hatten beispielsweise eigene Sendungen bei KAOS, bevor sie ihre Labels gründeten. 1987 gaben Nirvana im KAOS-Studio ihren zweiten öffentlichen Auftritt.
K Records gaben einen Newsletter heraus, auf dem das Label-Logo in Menschengestalt dargestellt und mit der Unterzeile versehen war: „Der echte Held kämpft gegen das vielarmige Kapitalismus-Monster und bricht den Bann musikalischer Unterdrückung“. Johnson trug maßgeblich dazu bei, die Leinwand der Indie-Rock-Kultur zu verbreitern. Azerrad zufolge war es K zu verdanken, „dass man sich unter Punk nicht länger einen Typen mit Irokesenschnitt und Lederjacke vorstellte, sondern ein nerdiges Mädchen mit Strickjacke.“ Stella Marrs schrieb in der Einleitung von Love Rock Revolution – K Records And The Rise Of Independent Music: „An die Stelle des Macho-Rock-Gotts der herrschenden Musikkultur war eine andere Form von Männlichkeit getreten, die sich auch einmal zu weinen traute.“ Damit konnte sich Kurt sehr identifizieren. Schon seit Beginn seiner Karriere war er bestrebt, ein Mann ohne Macho-Allüren zu sein.
Eric Erlandson, der später als Gitarrist zu Hole stieß und eng mit Kurt befreundet war, sagt über Olympia: „Es gab eine echte Underground-Szene, die immer schon Verbindungen nach Washington, D.C., pflegte.“ (Von dort stammten beispielsweise Fugazi, aber auch Dave Grohls erste Band Scream.) „Es war wie ein cooler, kleiner, inzestuöser Club, aber die meisten Leute waren offen und warmherzig. Kurt hinterließ bei den dortigen Musikern sofort einen großen Eindruck.“ Krist sagte über diese Zeit: „Kurt hatte schon jahrelang Songs geschrieben, und daher war er vielen anderen Musikern in seiner diesbezüglichen Entwicklung drei oder vier Jahre voraus. Nirvana fingen zwar als Musiker erst in Olympia und Seattle an, zeitgleich mit vielen anderen Bands, aber als Songwriter war Kurt schon auf einem anderen Level.“
Slim Moon machte 1986 seinen Highschool-Abschluss in Seattle und zählte zu einer Gruppe besessener Melvins-Fans, die zu jedem Konzert reisten, das in halbwegs fahrbarer Entfernung stattfand. Moon: „Die Melvins waren meistens mit einem Transporter mit Tigermuster unterwegs, der ihrem Roadie gehörte, und dieser Roadie war Krist.“ Bei einem dieser Gigs bemerkte Moon auch Kurt zum ersten Mal.
Nach der Schule zog Moon nach Olympia und besuchte das Evergreen College. Zwar gab er sein Studium bald auf, aber er blieb in der Stadt, weil er die Musikszene so großartig fand. Eines Abends gingen Moon und sein Highschool-Freund Dylan Carlson zu einer Party im Dude Ranch, einem Club in East Olympia, und kamen zum ersten Mal mit Kurt ins Gespräch; die gemeinsame Begeisterung für die Band Big Black sorgte sofort für eine gewisse Verbundenheit. Schon damals zeigte sich Kurts einzigartiger Sinn für Ästhetik. „Kurt trug einen sehr auffälligen Trenchcoat“, erinnert sich Moon.
Einige Monate später erlebte Moon bei einer anderen Party zum ersten Mal die neue Band von Kurt und Krist. Dale Crover von den Melvins saß am Schlagzeug. Sie nannten sich – zumindest an diesem Abend – Skid Row. „Damals änderten sie ihren Namen praktisch für jeden Gig“, sagt Moon. „Kurt trug Glam-Klamotten, sogar Plateauschuhe, aber es war klar, dass das reine Verarsche war. Vor allem erinnere ich mich daran, dass er kein Gitarrensolo spielte. Er hatte ein digitales Delay-Pedal, und es war ein bisschen so, als ob er halbe Gitarrensoli brachte, um klar zu machen, dass er sich über dieses Rock-Klischee lustig machte. Es war bemerkenswert.“
Moon, der inzwischen in Olympia kleinere Konzerte veranstaltete, buchte Kurts Band für ihren zweiten Gig. Er gibt zu, dass sein Freund Dylan Carlson „schneller raushatte als ich, dass Kurt ein Genie war“. (Kurt war bis zu seinem Tod mit Dylan befreundet, der höchstwahrscheinlich der letzte war, der ihn lebend sah.) Moon hingegen erkannte Kurts Qualitäten erst, als der damals Zwanzigjährige ihm einen Song vorspielte. „Das war so ein echter Ohrwurm, noch mehr als die meisten Sachen, die später dann auf Bleach landeten. Das haute mich wirklich um. Dass er mit den verschiedensten Formen spielte. Auf seiner Jeansjacke prangten zwar die Namen seiner ganzen Lieblingsbands, die auf Touch And Go und anderen Indie-Labels erschienen waren, aber er konnte trotzdem einen umwerfenden Killer-Song schreiben.“
Schon in dieser Lebensphase nahm Kurt gelegentlich Drogen. „Als ich umziehen musste, fragte ich Kurt, ob er mir helfen konnte. Zwar sagte er, dass er sich nicht gut fühlte, aber als ich einwandte, dass er der einzige meiner Bekannten war, der ein Auto hatte, half er mir beim Einpacken, verschwand kurz draußen, weil er kotzen musste, kam dann aber wieder und zog den ganzen Umzug mit mir durch. Das war so nett von ihm, dass er mich unterstützte, obwohl er sich so scheiße fühlte. Dass er Drogen nahm, war mir gar nicht klar.“
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