Wir leben die Geschichten, die wir uns erzählen. In einer säkularen wissenschaftlichen Kultur, der jegliche überzeugende spirituelle Führung fehlt, sprechen Geschichten über Superhelden klar und deutlich unsere größten Ängste, tiefsten Sehnsüchte und höchsten Erwartungen an. Superhelden bieten Hoffnung, schämen sich nicht, optimistisch zu sein, und sind auch im Dunkeln absolut furchtlos. Die Geschichten über sie sind so weit von unserer gesellschaftlichen Realität entfernt, wie es nur eben geht, doch behandeln die besten Superhelden-Geschichten direkt die mythischen Seiten des menschlichen Daseins, mit denen sich jeder identifizieren kann, und zwar auf fantasievolle, tiefgründige, witzige und provokante Weise. Das vorliegende Buch ist der ultimative Guide zur Welt der Superhelden – was sie sind, woher sie kommen, und wie sie uns helfen können, uns selbst, unsere Umwelt und das Multiversum an Möglichkeiten, das uns umgibt, wahrzunehmen und zu überdenken. Seid bereit, Eure Maskierung fallenzulassen, das Zauberwort für Eure Verwandlung zu flüstern und das Gewitter heraufzubeschwören. Es ist an der Zeit, die Welt zu retten.
AN ALLE HEISSBLÜTIGEN JUNGEN AMERIKANER!
Hiermit bist Du, (hier Name und Adresse einsetzen), offiziell erwählt worden, um als MITGLIED dieser Organisation alles zu tun, um Deine KRAFT und Deinen MUT für die GERECHTIGKEIT einzusetzen, den SUPERMAN CODE absolut GEHEIM zu halten und alle Regeln eines braven Staatsbürgers zu befolgen.
Es sind vielleicht nicht die Zehn Gebote, aber als moralische Orientierungshilfe für eine Jugend in einem aufgeklärten Zeitalter war das Credo der Supermen of America, eines Superman-Fanclubs, schon mal ein Anfang.
Dies ist die Gründungsgeschichte eines neuen Glaubens und seiner Eroberung der Welt:
Mit einem Blitzschlag entzündete der göttliche Funken der Inspiration billiges Zeitungspapier. Der Superheld ward geboren, aus einer Explosion von Farbe und Action. Von Anfang an präsentierten der Ur-Gott und sein düsterer Zwilling den Rahmen, durch den wir unsere besten wie unsere abgründigsten Impulse personifiziert und im ewigen Kampfe sehen konnten – ausgebreitet über eine epische, zweidimensionale Leinwand, auf der sich unsere äußeren und inneren Welten, unsere Gegenwart und Zukunft, abbilden und erforschen ließen. Sie kamen, um uns aus einem existentialistischen Abgrund zu erretten, jedoch mussten sie sich zuerst einen Weg in unsere kollektive Vorstellungskraft bahnen.
Superman war das erste dieser neuen Wesen, frisch aus der Druckerpresse im Jahr 1938, neun Jahre, nachdem der Börsencrash an der Wall Street eine katastrophale, weltweite Depression ausgelöst hatte. In Amerika gingen Banken Pleite, verloren Menschen ihre Jobs und ihre Häuser, zogen in extremen Fällen in hastig zusammengebaute Barackensiedlungen. Auch vernahm man Gepolter aus Europa, wo sich der ehrgeizige Reichskanzler Adolf Hitler zum Diktator von Deutschland erklärte, nachdem er fünf Jahre vorher bei der Wahl triumphiert hatte. Mit dem Auftauchen des ersten globalen Super-Bösewichts war die Bühne frei für die fantasievolle Antwort der freien Welt. Dieser Konter kam ausgerechnet aus den Reihen der Underdogs: Zwei junge, bebrillte und ideenreiche Science-Fiction-Fans aus Cleveland waren es, die, bewaffnet mit Schreibmaschine und Zeichenkarton, eine Macht entfesselten, die stärker war als Bomben, und ein Ideal formten, das mühelos Hitler und seine Träume von einem Tausendjährigen Reich überlebte.
Jerry Siegel und Joseph Shuster feilten sieben Jahre an ihrer Idee, bevor sie bereit war, der Welt präsentiert zu werden. Ihr erster Versuch im Comic-Genre resultierte in einer dystopischen Sci-Fi-Story über einen telepathischen Despoten. Der zweite Entwurf enthielt einen großen, starken, aber sehr menschlichen Helden, der sich um die Missstände in den Straßen kümmerte. Keine der beiden Geschichten entsprachen dem Geschmack der Verleger. Vier Jahre später, nach vielen fruchtlosen Versuchen, Superman als Comicstrip in die Zeitungen zu bringen, gelang es Siegel und Shuster schließlich, das Tempo und die Struktur ihrer Geschichten an die Möglichkeiten des Comic-Buchs anzupassen – womit auch diesem noch jungen Format plötzlich sein definierender Inhalt beschert wurde.
Der Superman, der es auf das Cover der Action Comics, Ausgabe 1,schaffte, war einfach nur ein simpler Halbgott, nicht die popkulturelle Gottheit, die er einst werden sollte. Der Prototyp von 1938 vermochte 200 Meter weit zu hüpfen, ein zwanzigstöckiges Gebäude im Sprung zu überwinden, kolossale Gewichte zu stemmen, schneller als ein Expresszug zu sprinten, und seine Haut konnte allerhöchstens mittels Granatbeschuss durchdrungen werden. Obwohl er ein Genie war, ein wahrer Herkules und der Erzfeind aller Bösewichte, war diese Version von Superman noch flugunfähig und beschränkte sich stattdessen auf seine in der Tat enorme Sprungkraft. Er konnte weder die Erde in Lichtgeschwindigkeit umkreisen noch den Fluss der Zeit aufhalten. Das kam erst später. In seinen Jugendtagen war er beinahe noch glaubwürdig. Siegel und Shuster bemühten sich, seine Abenteuer in einer zeitgenössischen, aber fiktiven Stadt, allerdings nicht unähnlich dem realen New York, zu verankern, welche genauso wie der Rest der realen Welt von nur allzu bekannten Ungerechtigkeiten heimgesucht wurde.
Die Abbildung auf dem Cover, die der Welt diesen bemerkenswerten Typen vorstellte, bot etwas komplett Neues, etwas, das noch nie jemand gesehen hatte. Es ähnelte einer Höhlenmalerei, welche Forscher einmal, zehntausend Jahre in der Zukunft, an der Wand eines prähistorischen U-Bahn-Schachts entdecken könnten – ein kraftvolles, gleichsam futuristisch wie primitiv anmutendes Abbild eines sagenhaften Jägers, der ein wildgewordenes Auto zur Strecke bringt.
Der knallgelbe Hintergrund der rot gezackten Korona – beides in den Farben Supermans gehalten – erinnert an eine explosive Detonation von roher Kraft, die den Himmel erleuchtet. Neben dem schlichten Logo von Action Comics, dem Datum (Juni 1938), der Ausgabe (Nr. 1) und dem Preis (10 Cents) findet sich keine einzige Erwähnung des Namens Superman. Die Botschaft war prägnant genug. Zusätzliche Schriftzüge wären überflüssig gewesen: Die Action war, was zählte. Die Taten eines Helden zählten weit mehr als seine Worte, und von Anfang an war Superman permanent in Bewegung.
Zurück zum Cover: Seht Euch den schwarzhaarigen Mann in seinem eng anliegenden rot-blauen Outfit und seinem roten Cape an, wie er sich von links nach rechts entlang des Bildäquators bewegt. Das auffällige Emblem auf seiner Brust deutet ein „S“ an. Der Mann ist in vollem Schwung festgehalten, auf den Zehenspitzen seines linken Fußes, beinahe, als würde er zum Abflug ansetzen, während er mühelos das olivgrüne Auto über seinen Kopf stemmt. Mit beiden Händen zertrümmert er das Gefährt an einem Felsen. In der unteren linken Ecke stürmt ein Mann in blauem Anzug aus dem Bild, wobei er seinen Kopf ähnlich Edvard Munchs Schreihals in seinen Händen hält. Sein Gesicht ist erfüllt mit existentieller Angst, wie ein Mann, der durch das, was er gerade miterlebt, an die Grenzen seiner Vernunft getrieben wird. Über seinem Kopf sieht man einen anderen Mann in einem konservativ anmutenden Zweiteiler, der sich ebenso Richtung Bildrand verabschiedet. Ein dritter, nicht weniger erschütterter Protagonist kauert auf Händen und Knien am Boden und blickt ganz ohne Jacke auf den übermenschlichen Vandalen. Seine elende Haltung symbolisiert seine totale Unterwerfung gegenüber diesem ultimativen Alphamännchen. Einen vierten Mann gibt es nicht: Sein potentieller Platz in der rechten unteren Ecke des Bildes wird von einem Weißwandreifen, der von seiner Achse gerissen wurde, eingenommen. Ähnlich den glupschäugigen Ganoven versucht er, die Flucht vor diesem zerstörerischen Muskelmann zu ergreifen.
Читать дальше