Dieser Mix ergibt einen verwegenen Cocktail und dehnt das Potenzial des Superhelden-Konzepts auf eine Weise, wie es später „Lucy in the Sky with Diamonds“ mit der vorherrschenden Vorstellung von Popmusik machen sollte.
Das Zauberwort war ein Konzept, das den Superhelden mit der Grundlage des menschlichen Sprechens verband: Sprache, Geschichten erzählen. Captain Marvels Kräfte waren nicht das Resultat harter Jahre im Fitnesscenter oder seiner außerirdischen Abstammung oder seines königlichen Blutes. Seine Kräfte leiteten sich von einem Zauberspruch ab. Er war ein Zauberer.
Ich erinnere mich, wie ich als Kind jedes Wort im Wörterbuch ausrief, nur um mein persönliches Shazam! zu finden. Letztendlich sucht jeder nach seinem eigenen Zauberwort: die Diät, die Beziehung, die Weisheit, die uns befreien und uns vom Koventionellen hin zum Außergewöhnlichen führen könnte. Diese ewige menschliche Hoffnung auf Transzendenz war wie Raketentreibstoff für die Captain-Marvel-Comics. Shazam! wurde ein Bestandteil unserer Kultur wie Abracadabra oder Hey Presto! – eine Allzweck-Beschwörungsformel. Es war ein Wort der Erleuchtung und der persönlichen Verwandlung, die in einem weißglühenden Augenblick vollbrachte, was Jahrzehnte buddhistischer Meditation nicht in der Lage wären zu bewirken. Seine Kräfte waren die Siddhi, welche von den ultimativen Yogis beansprucht werden. In der Sprache der zeremoniellen Magie beschwor Shazam! den höchsten Schutzengel, um einem zu Hilfe zu eilen. Wenn Billys natürliche Neugier ihn in Schwierigkeiten brachte, konnte dieses Wort Captain Marvel herbeirufen, um alles wieder gerade zu biegen.
Tatsächlich war Shazam ja ein Akronym. Captain Marvels Kräfte leiteten sich von sechs Gottheiten und legendären Helden ab. Er war ausgestattet mit der Weisheit von König Salomon, der physischen Stärke von Herkules, der Ausdauer des Atlas, der Macht des Zeus, dem Mut des Achills und der Geschwindigkeit des Merkurs. Merkur war im ganzen Konzept allgegenwärtig, vom knallgelben Motiv des Blitzes auf des Captains Kostüm bis hin zu den Wortspielen und der Präsenz des alten Zauberers, der Billy mit seinem Zauberwort ausgestattet hatte. Dieser arbeitete als Junior-Reporter für den Radiosender WHIZ, womit er in den Fußspuren des Zeitungsmannes Clark Kent wandelte. Der prestigeträchtige Job eines jugendlichen Radioreporters scheint ein so perfekter Job für einen jungen Hermes, dass es schon fast nicht mehr außergewöhnlich oder auch nur erwähnenswert wirkt.
Dies alles machte den ersten okkulten – oder vielleicht passender: hermetischen – Superhelden aus: Marvel war ein Magier in Strumpfhosen, ermächtigt durch höhere Mächte und das Göttliche. Wo Supermans Kräfte auf pseudowissenschaftliche Art und Weise erklärt wurden, öffneten die Abenteuer Captain Marvels die Türen zu einer Welt voller magischer Selbstüberzeugung und Verwandlungsgabe. Da, wo Superman die Zähne zusammenbeißen musste, um die Übel der Welt überwinden zu können, lächelte Marvel bloß und hatte Zeit, seine liebenswerte, warme und gut ausgeprägte Persönlichkeit zu zeigen. Während Supermans Cape schlicht und einfach nur mit seinem „S“ verziert war, war Marvels Umhang extravagant mit einer goldenen Verzierung und bourbonischen Lilien dekoriert. Er trug die militärische Uniform der Männer und Frauen der Zukunft.
Marvel führte noch eine weitere Neuerung ein. Superhelden waren bis dahin Einzelgänger gewesen. 1940 hatte Batman gerade erst Robin angelernt und das Zeitalter der jungenhaften Sidekicks noch nicht ernsthaft begonnen, da hatte Captain Marvel bereits eine Familie um sich geschart. Eine Superhelden-Familie! Zuerst, im Jahr 1942, schloss sich ihm seine Cousine Mary Batson an – sie musste bloß den Namen ihres Helden, „Captain Marvel“, aussprechen, um sich in die weise und gute Mary Marvel zu verwandeln, die ein Gebäude zu Staub zertrümmern konnte, wenn es nötig war. Das dritte Mitglied ihres Teams war der umwerfende Captain Marvel Jr., der sein Debüt in Whiz Comics #25 (1942) feierte.
In einer Ära, in der ein großer Teil des Artworks noch wohlwollend als „robust-primitiv“ bezeichnet werden konnte, waren die Arbeiten von Mac Raboy für diese Strips von einer zeichnerischen Feinheit und einem Verständnis von Anatomie und Bewegung geprägt, die sie einzigartig machten. Sein von ihm gestalteter Captain Marvel Jr. war ein geschmeidiger Engel, der mühelos und besser als jeder andere Superheld die Freiheit des blauen Himmels und die jugendliche Energie einfing. Mit einem solch fähigen Partner wie Raboy im Studio, entwickelte Becks eine glatte und professionelle Linienführung. Die Verkaufszahlen von Captain Marvel erreichten ungeahnte Höhen und übertrafen sogar die des mächtigen Superman. Die Hintergründe erschienen solider in den Geschichten der Familie Marvel, die Schatten waren schwärzer und deutlicher, der Fokus und die Tiefe irgendwie schärfer, und die Comics entwickelten einen edlen Look, der an Disney-Animation oder die besten Zeitungsstrips erinnerte.
Captain Marvel inspirierte sogar seine eigenen Epigonen, z. B. den britischen Marvelman – eine Figur, der ich meinen ersten persönlichen Kontakt mit Superhelden verdanke: Ich war gerade drei Jahre alt und traf auf ihn, als ich durch ein bizarres Abenteuer mit dem Titel Marvelman Meets Baron Munchausen blätterte. Marvelman war eher ein Produkt der Notwendigkeit als der Inspiration. Als DC 1954 erfolgreich Fawcett Comics, den Verleger der Captain-Marvel-Comics verklagte, und Captain Marvel nicht länger erscheinen durfte, musste ein hastig kreierter Ersatz-Superheld dessen Platz in den britischen Veröffentlichungen einnehmen. Editor Mick Anglo rekonfigurierte das zugrunde liegende Konzept der Marvel Family und arbeitete die Figur um, indem er ihre Haare blond färbte und sie in ein blaues Kostüm ohne Cape und ohne außen getragene Unterhosen steckte. Billy und Mary wurden durch Young Marvelman und Kid Marvelman ersetzt. Und doch, als ob Rechtsstreitigkeiten zur Grundstruktur des Konzepts des Comics gehören würden, wurde Marvelman selbst Gegenstand eines erbittert geführten Gerichtsprozesses, der sich über Jahrzehnte erstrecken und große Namen der Industrie wie Alan Moore, Neil Gaiman oder Todd McFarlane mithineinziehen sollte. Captain Marvel und seine geklonten Abkömmlinge fanden sich verstrickt in Statuten, so als hätte sie das Gesetz, Prometheus gleich, gefesselt. DC sollte Fawcett vor Gericht schließlich komplett zerstören, aber der Name Marvel selbst sollte zurückkehren, um DC Comics heimzusuchen.
Den rechtlichen Streitigkeiten, der Verbannung und der Entmachtung des ursprünglichen Captain Marvel zum Trotz, haben er und seine Familie kulturelle Spuren hinterlassen. Elvis Presleys erste Single erschien drei Jahre, nachdem DC die Klage, die das Universum der Marvel Family zu Fall bringen sollte, eingereicht hatte, doch der King of Rock’n’Roll identifizierte sich so stark mit dem geschmeidigen Superjungen aus der Feder Mac Raboys, dass er zu einem Zeitpunkt, als seine Figur schon nicht mehr ganz schlank war, sich seine Kostüme nach dem Vorbild von Captain Marvel Jr. schneidern ließ. Man denke nur an die kurzen Capes und die hohen Kragen, die Elvis in seinen späteren Jahren trug. Oder aber auch an den zerzausten tiefschwarzen Haarschopf, den der King auf seinem Kopf trug. Sogar das blitzförmige Logo am Heck seines Privatjets leitete sich von Captain Marvels Brustverzierung ab, was allerdings nur den Anfang einer fortwährenden Phase der gegenseitigen kreativen Befruchtung zwischen Comics und Popmusik, zweier gleichermaßen verachteter Kunstformen Mitte des 20. Jahrhunderts, darstellte.
Es ist daher kaum überraschend, dass Captain Marvel auch Ken Keseys liebster Superheld war. 1959 hatte sich Kesey freiwillig zu einer klinischen Testreihe von LSD-Experimenten gemeldet, was ihn dazu inspirieren sollte, seinen Roman Einer flog über das Kuckucksnest zu schreiben. Kesey und ein paar seiner jungen Anhänger bemalten auch einen Schulbus mit Neonfarben und machten sich auf den Weg, eine Armee von Rebellen zu rekrutieren und eine alternative Gesellschaft befreiter übermenschlicher Wesen zu begründen.
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