Die Ständer der Motorräder kratzten über den Asphalt. Das Spiel begann. Und das war’s für mich – meine erste bedeutsame Nacht im Rahmen der Infiltration der Vagos war schon beendet, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Als die Bikes mit lautem Krachen auf dem harten Asphalt aufschlugen, verschwanden die Vagos wie Kakerlaken aus der Bar und rannten dem weißen Wagen nach. Truck schnaufte bis zum Rand des Gehwegs und notierte sich das Kennzeichen. Schweiß lief an seinen Schläfen runter.
„Wir finden heraus, wo der wohnt!“ Er steckte sich den Zettel in die Brusttasche. Unbeeindruckt von der Präsenz einer Polizeistreife fluchte er: „Wir werden uns um das Geschäftliche kümmern!“ Instinktiv spürte ich, was das bedeutete. Die Vagos planten, den Mann aus der anderen Gang zu jagen, ihn an einen verlassene Ort zu zerren und ihm dort die Bedeutung des Wortes Respekt einzutrichtern. Nein, kein Austausch der Versicherungskarten oder eine harmlose Abreibung! Falls die Vagos ihr Opfer fänden, würden sie es zusammentreten, seinen Wagen demolieren, die Schweinwerfer einschlagen, die Türen eintreten, die Fenster in kleine Glassplitter verwandeln und den Motor auseinandernehmen. Und natürlich gäbe es weder ein „Opfer“ noch einen Polizeibericht oder eine Strafverfolgung. Die Angst vor der Rache der Clubmitglieder würde den Mann zum Schweigen bringen.
Später saß ich auf dem Rand meines Bettes. Hercules hatte den Kopf auf mein Knie gelegt. Ich telefonierte mit Kiles, doch wusste schon von vorneherein, dass es kaum Hoffnung gab, dass ihre Abteilung etwas gegen die bevorstehende Vergeltungsaktion unternehmen konnte. Das Schicksal des Mannes war besiegelt. Schon bald würde er ein menschliches Wrack sein, ein weiterer Namenloser in einem Krieg, bei dem alles erlaubt war. In dem Augenblick wurde mir klar, dass ich mehr unternehmen musste, als Kiles nur die Informationen zu stecken. Ich wollte etwas bewirken, mich in die Organisation der Vagos einschleichen, mich mit den Anführen gutstellen, ja, ein waschechter Vago werden.
Doch wie sollte ich das ohne ein Bike, ohne jeglichen Schutz und ohne Geld bewerkstelligen?
Nach dem Zwischenfall im Motherlode gab die hässliche, zwergenhafte Besitzerin der Gang Lokalverbot. Vinny trommelte die Biker dann im Hustler zusammen, einer Spelunke, 30 Meilen von meinem Apartment entfernt. Der Laden erinnerte an eine nasse, verschwitzte Höhle. Zigarettenqualm hing in der Luft. Die nur schemenhaft zu erkennenden Gesichter der Biker erinnerten an Gespenster, während sie über einigen Bieren ihre nächste Tour besprachen. Ihr Ziel lag darin, die Polizeiüberwachung ins Leere laufen und die Party ungestört in einer verlassenen Gegend steigen zu lassen. Doch die Besprechung wurde unterbrochen, und zwar von Terrible, einem Neo-Nazi, der ein tiefer gelegtes Bike fuhr und schon lange mit dem Victorville-Chapter der Vagos abhing. Terrible stellte die personifizierte Gewalt dar: Er wirkte hart und unnachgiebig, trug ein 22-Tattoo an seinem Hals, hatte Piercings an der Stirn und sich dort auch zwei hervorstehende Teufelshörner aus Metall implantieren lassen. Innerhalb einer Stunde kippte er fünf Biere und prahlte damit, wie sein Bruder Robbery einem Mann aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen habe. Dieses Geständnis war einfach so aus ihm herausgesprudelt. Ich spürte das Klicken des Mini-Rekorders in meiner Unterhose. Nach Entfernen des Mikrofon-Schutzes hatte ich das Miniteil in der Unterhose über dem Schwanz verstaut. Durch die eng anliegende Unterwäsche blieb es fest an der Stelle. Ich konnte sicher sein, dass niemand die Apparatur dort entdecken würde, mal abgesehen davon, dass derjenige mir voll in den Schritt griff.
Durch Terrible lernte ich die erste Lektion in Sachen „Rückzahlungsbedingungen“: „So ein Typ schuldete ihm Kohle. Er pennte hinter dem Steuer ein, fuhr den Wagen zu Schrott und lag zwei Monate lang im Streckverband im Krankenhaus.“ Sein Lachen klang eher wie ein Würgen, als hätte er sich niemals in seinem Leben über etwas Lustigeres amüsiert. Ich nickte. Rückzahlungsbedingungen der besonderen Art. Terrible zuckte und wurde immer nervöser, brach die Erzählung kurz ab und stotterte dann weiter. Ihm schien nicht klar zu sein, dass er die Geschichte seines Bruders in der Mitte zu erzählen begonnen hatte, so als hätten wir uns vorher schon einmal getroffen, als hätte ich eine direkte Frage danach gestellt, als wüsste ich, dass Terrible eine Familie besaß. Er war von Drogen total benebelt, und seine Welt zog in Bruchstücken an ihm vorbei, Ausschnitte aus Gesprächen flackerten auf, Erinnerungsfetzen kamen in ihm hoch, und dann war da wieder diese weite Leere ohne einen Anhaltspunkt, die ihn panisch machte. Er versuchte krampfhaft Ordnung in seine Welt zu bringen, die das reinste Chaos war.
Vielleicht stachelte ihn die Anspannung an, vielleicht musste er für Ordnung in dem heillosen Chaos sorgen – auf jeden Fall sprang er plötzlich vom Stuhl auf, ballte die Hände zu Fäusten und rannte wie eine Abrissbirne durch den Laden, wobei er jedem Gast, der ihn ein wenig schief ansah, einen Schlag verpasste. Sein ungelenkes Gebaren erweckte einen Eindruck wie in einem Comic, denn als neben ihm die ganzen Leute zu Boden gingen, rutschte er in ranzigem Öl und zerbrochenem Glas aus. Ich spürte, wie das warme Bier mir über die Hände lief, und stand vor dem ersten Test: Sollte ich mich in das Getümmel stürzen oder zurückweichen? Egal, wie ich mich verhielt – ich war kräftig angeschissen. Wenn ich einem Typen die Fresse zu kräftig polierte, würde sich das möglicherweise zwar günstig auf meinen Status bei den Vagos auswirken, doch sicherlich im Sheriff’s Department auf wenig Gegenliebe stoßen. Es war nicht so, dass man mich an der kurzen Leine hielt. Ich musste mich an keine Vorgaben halten, doch sauber bleiben, den Job behutsam erledigen und auf dem schmalen Grat zwischen Gentleman und Biker wandeln. Die Regierung wollte messbare Ergebnisse: Verhaftungen, kiloweise Drogen und brauchbare Informationen. Aber ein Köder, wie ich nun mal einer war, musste mit Bedacht und Vorsicht ausgelegt werden. Ich hing ähnlich einem Wurm an einem Angelhaken, im seichten, klaren Wasser, und konnte jederzeit gefressen werden.
Blitzschnell drehte ich mich herum und sah, wie einer der Gäste sich auf Terrible gestürzt hatte und ihm von hinten die Kehle mit beiden Händen zudrückte. Mit einem gezielten Schlag setzte ich den Mann außer Gefecht. Benommen schlug er auf den Boden auf, stolperte beim Aufstehen, holte tief Luft und rannte auf mich zu. Ich beschränkte mich auf Fair Play und wollte hier keine miesen Tricks abziehen, da ich wusste, dass mich zahlreiche Augenpaare beobachteten und meine Kampfkraft und Loyalität einschätzten. Nach einigen Runden im imaginären Boxring schlug eine unsichtbare Glocke, und der Kampf wurde beendet. Mein Handrücken war rot angeschwollen und glänzte vom Schweiß. Blut tropfte aus der zugeschwollenen Augenhöhlen des Gegners, der geschlagen in seine Ecke kroch. Einige Sekunden lang hörte ich nur noch schweres, bemühtes Atmen. Dann – ähnlich einer wilden Flucht – rannten die Vollmitglieder durch die Eingangstür, um draußen weiterzukämpfen.
Terrible klopfte mir auf die Schulter. Er wirkte erleichtert. Er schnippte mit den Fingern in Richtung Bar: „Ein Bier für den Abhänger.“ So einfach war das. Nur durch diese eine Aktion stieg ich einen Rang in der Hackordnung auf, stand jetzt also über Frauen und Hunden. Ähnlich der Mafia hatten die Vagos und andere Outlaw-Biker einen Kreis von kriminellen Mitläufern, die man je nach Rang als „Prospects“ oder „Abhänger“ bezeichnete. Es waren Typen, bereit dazu, der Gang die Drecksarbeit abzunehmen. Unter dem Schutzmantel des Clubs konnten sie später ihre kriminellen Unternehmungen durchziehen. Terrible ernannte mich also zu seinem offiziellen Chauffeur, dankbar dafür, dass ich einen Wagen besaß und nicht das Statussymbol eines jeden Bikers – eine Maschine.
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