1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Anna unterzog ihren Körper einer kritischen Betrachtung und fühlte sich danach noch unwohler: „In meiner Jugend war ich spindeldürr. Ewig lange Beine und nichts dabei, was Schwarze wirklich anspricht. Dazu muss ich vielleicht erklären, dass die Schwarzen in der Schicht, aus der ich damals kam, beleibtere Frauen bevorzugten.“ (5)
Die Mädchen auf ihrer High School hatten Kurven, volle Lippen und wohlgeformte Beine. Wenn sich Anna im Spiegel anschaute, bemerkte sie, dass sie nichts von alledem vorzuweisen hatte. „Das war damals in meiner frühen Jugend alles nicht so toll“, erinnert sie sich, „denn ich fand mich selbst viel zu dünn. Nichts war irgendwie am richtigen Platz.“(12)
Doch auf der Lauderdale High eröffnete sich für Anna eine komplett neue Welt. Da Anna großes Interesse daran hatte, Neues kennenzulernen, entdeckte sie alle möglichen Aktivitäten, an denen sie Gefallen fand und bei denen sie mitmachte. Da die Basketballmannschaft ihrer Schule das Spitzenteam der ganzen Gegend war, waren die Basketballspiele immer sehr aufregende Ereignisse. Anna trat deshalb dem Cheerleader-Team ihrer Schule bei.
Während ihrer Zeit als Cheerleader lernte sie ihre erste große Liebe kennen. Er spielte im Basketballteam der Carver High School in Brownsville, einer der mit der Lauderdale High konkurrierenden Schule. Als Lauderdale gegen Carver spielte, entdeckte sie ihn auf dem Basketballfeld. Es war Liebe auf den ersten Blick. In Annas Augen sah er unheimlich gut aus. Er hatte tolle Zähne, einen athletischen Körper und ebenmäßige dunkle Haut. Im gegnerischen Team trug er die Spielernummer 9.
Anna wollte unbedingt herausbekommen, wer er war. Sie ging deshalb hinüber zu einem der Trainer der Carver High-Mannschaft und erkundigte sich, wer denn die Nummer 9 sei. Der Trainer lief daraufhin einfach zu dem Spieler Nummer 9 hinüber und kam mit ihm im Schlepptau zu Anna zurück. Sie war selbst überrascht, wie bestimmt sie gehandelt hatte.
Wie sich herausstellte, war die Nummer 9 der Kapitän des Basketballteams der Carver High. Er hieß Harry Taylor. Tina zufolge funkte es sofort. Jedoch war ihre erste Begegnung nur von kurzer Dauer. Harry weiß noch, wie er – in der Hoffnung, er könne mit Anna sprechen – in einer Spielpause auf die Seite des gegnerischen Teams hinüberging. Doch als er dort ankam, war sie bereits weg.
Leider war Anna nicht die einzige Cheerleaderin ihres Teams, auf die Harry ein Auge geworfen hatte. Annas Erzrivalin war im selben Cheerleaderteam und hieß Rosalyn. Sie kannte Rosalyn bereits eine ganze Weile aus der Schule. Sie waren beide zusammen zur Grundschule, der Johnson Grade School Annex gegangen. Anna war entsetzt, als sie herausfand, dass Rosalyn Harry ihre Telefonnummer gegeben hatte. Dadurch fühlte sie sich noch weniger wohl in ihrer Haut, denn sie hatte noch nicht einmal ein Telefon zu Hause.
Doch wie es das Schicksal so wollte, kam es zu einer Art göttlicher Fügung. Zu jener Zeit hatte ihr Vater Richard Bullock Ella Vera noch ein wenig Geld für den Unterhalt von Anna und Alline geschickt. Als plötzlich kein Geld mehr floss, mussten Anna und Alline zurück in die Gegend um Nutbush, wo sie bei Oma Roxanna und Onkel Gill einzogen.
Damit verließen sie Lauderdale County und kehrten zurück nach Haywood County, das zu einem ganz anderen Schulbezirk gehörte. Auf einmal war Anna Schülerin der Carver High – der Schule, auf die auch Harry ging! Es war einfach perfekt.
Dass sie nun an die Carver High gekommen war, brachte viele positive Veränderungen in Annas Leben mit sich. Zunächst einmal begann der dortige Schulleiter Anna zu mögen. Er hieß Roy Bond. Eines Tages hatte sie sich in der Schule ein wenig daneben benommen und wurde zum Direktor geschickt. Mr. Bond sah Anna Mae Bullock kurz an und sagte dann zu ihr, dass er von ihr „Besseres“ erwarte. Mit einem solch ungebührlichen Verhalten hätte er eher bei einem anderen Schüler gerechnet – aber sicherlich nicht bei ihr. Diese Aussage brachte Anna dazu, sich einer kritischen Selbstbetrachtung zu unterziehen. In seinem Büro erteilte Mr. Bond ihr eine Strafpredigt zu ihrem Verhalten und sagte zu ihr, für ihn sei klar, dass sie nicht wie die anderen Schüler sei, er sehe in ihr etwas Besonderes. Nun, vielleicht war es ja gar nicht so schlecht, anders zu sein.
Sie hatte nicht das Gefühl, gerade vom Direktor abgestraft worden zu sein. Es ging ihr eher ein Licht auf. Sie hatte immer gespürt, irgendwie anders zu sein, nicht überallhin zu passen. Möglicherweise war das ja etwas Gutes, vielleicht besaß sie eine besondere Eigenschaft, die anderen ins Auge fiel.
Dass Anna keine Eltern zu Hause hatte, war im Lehrerkollegium allgemein bekannt. Anna merkte, dass die Lehrer, einer nach dem anderen, anfingen, nach ihr zu schauen, und ihr dabei halfen, zurechtzukommen. Einmal sah die Schulbibliothekarin Anna vorbeilaufen und hielt sie an. Anna wurde von ihr darüber aufgeklärt, dass es sich für eine junge Dame nicht zieme, mit so einer schlechten Haltung und herausgestrecktem Bauch herumzulaufen. Sie müsse den Bauch einziehen und die Leute, besonders die Jungs, dürften sie nicht mit herausgestrecktem Bauch zu sehen bekommen. Von da an war Anna immer auf eine gute Haltung bedacht und achtete auf ihr Benehmen.
Nun, da sie zur Carver High School ging, begann Anna auch bald mit anderen Aktivitäten. Sie ging nicht nur ins Cheerleader-Team, sondern spielte auch in der schuleigenen Mädchenmannschaft Basketball. Sie war so mit ihren Nachmittagsaktivitäten an der Schule beschäftigt, dass sie manchmal, statt den Bus nach Hause zu Oma Roxanna zu nehmen, in der Stadt blieb und bei einer der anderen Cheerleaderinnen, Carolyn Bond (die aber nicht direkt mit dem Schuldirektor Mr. Bond verwandt war), übernachtete. Anna wurde auch Mitglied im Laufteam der Schule und erwies sich dort als schnelle und wettkampforientierte Läuferin. Mochte sie auch noch so sehr über ihre dünnen Beine gejammert haben, so stand doch fest, dass sie viel Kraft in diesen Beinen hatte und sie zu gebrauchen wusste.
Carolyn Bond erinnerte sich später, wie energiegeladen und beliebt Anna an der Carver High School war. Sie wirkte bei den Theateraufführungen der Schule und allen dort veranstalteten Talentshows mit. Bei Basketballspielen ging Anna in der Halbzeit aufs Feld und wurde zur Entertainerin: Sie tanzte und sang zu Musik, die vom Band kam.
Anna und Carolyn waren auch gemeinsam im Schulchor. Anna liebte es zu singen, und alle ihre Klassenkameraden bemerkten verblüfft, was für eine tolle Stimme sie – schon damals – besaß. Für schwarze Jugendliche gab es damals nicht allzu viele Orte, an denen sie ihre Zeit verbringen konnten. Um den Schülern ein organisiertes Freizeitprogramm zu bieten, veranstaltete die Schule an Samstagnachmittagen Tanzpartys. Auch dorthin ging Anna sehr gerne.
An den Abenden, an denen Anna bei Carolyn übernachtete, merkte diese, dass Anna nie Kleidung zum Wechseln dabei hatte, die sie nach den Veranstaltungen, die sie besuchten, anziehen konnte. Oft borgte Carolyn ihr deshalb einige ihrer eigenen Kleidungsstücke. Ganz besonders gefiel Anna ein bestimmtes Paar Jeans, das Carolyn besaß – denn sie fand, dass ihre Beine und Hüften darin kräftiger aussahen.
An dem Wochenende vor Beginn des nächsten Schuljahres gingen Anna und Alline nach Brownsville, um dort ein wenig herumzulaufen und die Lage zu peilen. Da sie nicht vorhatten, sich irgendetwas Besonderes anzuschauen oder zu machen, trug Anna eines der Kleider, das sie nicht sonderlich mochte. Ihren Erzählungen nach trugen die schwarzen Jungs in Brownsville weiße Hemden sowie hautenge Bluejeans und die Röcke und Blusen der Mädchen, mit denen sie herumhingen, entsprachen von ihrem Stil her ganz der in den 1950ern beliebten Rock & Roll-Mode.
Natürlich lief sie zufällig just an diesem Abend ihrem Traummann in die Arme: Harry Taylor. Er trieb sich mit ein paar Freunden in der Innenstadt von Brownsville herum, in einem Viertel, das ebenfalls als „The Hole“ bekannt war. Auf einmal wurde Anna sehr schüchtern und drückte sich eine Weile dort herum, in der Hoffnung, dass er sie bemerkte. Selbstverständlich entdeckte Harry sie. Er kam zu Anna herüber und fing ein Gespräch mit ihr an. Es knisterte gewaltig und Annas erste Liebesbeziehung nahm ihren Anfang.
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