The Spaniels hatten sich in der Roosevelt High School an der 25th Avenue in Gary formiert und gaben dort 1952 auch ihr Live-Debut – buchstäblich um die Ecke von der Adresse 2300 Jackson Street, wo sinniger-, aber zufälligerweise die junge Jackson-Familie wohnte. Anfang 1953 unterschrieb die Gruppe einen Vertrag beim soeben gegründeten, ebenfalls in Gary ansässigen Plattenlabel Vee-Jay. Es ist dies keine Nebensache: Vee-Jay war das erste größere unabhängige Plattenlabel in den USA, das ganz im Besitz von Schwarzen war: Es gehörte dem Ehepaar Vivian Carter und James C. Bracken, das in Gary einen Plattenladen führte. Mit „Baby It’s You“ landeten die Spaniels auf Anhieb in den Top 10 der Rhythm & Blues-Charts. Im Frühjahr 1954 gelang mit „Goodnite Sweetheart, Goodnite“ auch noch der Sprung in die Pop-Top-30. In der Folge gehörten zum Repertoire von Vee-Jay nebst Doo-Wop auch Blues (Jimmy Reed, John Lee Hooker, Gene Allison etc.), Soul (Jerry Butler) und die Beatles (Capitol Records, die amerikanische Abteilung von EMI, hatte sich geweigert, mit den frühen Singles der Schreihälse aus Liverpool ihren respektablen Ruf zu ruinieren!). Michael Jackson nannte früh den Doo-Wop-Sänger Frankie Lymon als großes Vorbild, und zwar im positiven wie im abschreckenden Sinn. Lymon war erst dreizehn Jahre alt, als er mit seiner Gruppe The Teenagers und der Nummer „Why Do Fools Fall In Love“ in der Hitparade landete. Er zeigte also, dass eine junge Stimme nicht unbedingt Lieder mit Kinderthemen anstimmen musste, um Erfolg zu haben. Andererseits konnte Lymon mit dem Erfolg nicht umgehen. Er war erst 25 Jahre alt, aber bereits zum dritten Mal verheiratet, als er im Februar 1968 in Harlem, New York, an einer Überdosis Heroin verstarb.
Joe und Katherine Jackson verfolgten die popmusikalischen Entwicklungen so gut es eben ging mit ihren bescheidenen Mitteln. Das Paar hatte alle Hände voll zu tun damit, die rasant anwachsende Familie über die Runden zu bringen. Am 29. Mai 1950 kam die erste Tochter zur Welt – Maureen, alias Rebbie. Es folgten Sigmund Esco (genannt Jackie, 4. Mai 1951), Tariano Adaryl (Tito, 15. Oktober 1953), Jermaine LaJuane (11. Dezember 1954), LaToya Yvonne (29. Mai 1956), Marlon David (12. März 1957; ein Zwillingsbruder verstarb am Tag nach der Geburt), Michael (29. August 1958), Steven Randall (29. Oktober 1961) und schließlich noch Nesthäkchen Janet Dameta (16. Mai 1966). Joe verdiente sein Brot als Kranführer in den Stahlwerken und nahm zusätzlich Gelegenheitsjobs auf den Kartoffelfeldern und als Schweißer an. Wenn das Geld besonders knapp wurde, arbeitete Katherine im Kaufhaus Sears. Die Musik war eine Passion, mit der Joe und Katherine auch gewisse Hoffnungen verbanden. Katherine träumte davon, Sängerin zu werden. Joe formierte mit seinem Bruder Luther die Rhythm & Blues-Band The Falcons, um mit Auftritten in Lokalbars ein paar zusätzliche Cents in die Haushaltskasse zu bringen – und danach, wer weiß?
Zu ihrem Programm gehörten die druckvolleren Rhythm & Blues-Hits von Chuck Berry und Little Richard (was angesichts von Joes kapitaler Homophobie nicht einer gewissen Ironie entbehrt). Aber die Band war offenbar nicht imstande, das Interesse von Plattenlabels zu erwecken oder sich einen überregionalen Ruf zu schaffen. Wann genau Jackson die Falcons aufgab, ist unklar. Seine Söhne Jackie, Tito und Jermaine können sich alle noch daran erinnern, wie die Band in der Stube vom Bungalow an der Jackson Street geübt hat. Michael hat früher erklärt, er könne sich daran nicht erinnern, beschreibt diese Proben dann aber in seinen Memoiren („Moonwalk“, 1988), als ob er dabei gewesen wäre. So oder so ist das, was danach passierte, Stoff der Legende. Wenn der Vater nicht zu Hause war, sangen die kleinen Jacksons mit ihrer Mutter gern Volkslieder und Country & Western-Hits. Es gehöre zu seinen frühesten Erinnerungen, wie ihm Katherine das Leadbelly-Lied „Cotton Fields“ sowie „You Are My Sunshine“ vorgesungen habe, schreibt Michael. Man habe die Wahl gehabt, einer Gesangsgruppe beizutreten oder einer Straßen-Gang, hat Jackie Jackson berichtet. Die Jacksons wählten notgedrungen die erste Variante, denn so wie ihr Vater nicht hatte mit den Nachbarskindern spielen dürfen, gönnte er das Vergnügen wiederum auch seinem eigenem Nachwuchs nicht. Am Anfang bestand die „Gruppe“ aus Jackie, Tito und Jermaine. Tito riskierte jedes Mal Kopf und Kragen, wenn er Joes Gitarre aus dem Schrank holte. Diese nur schon zu berühren war den Kindern streng untersagt. Als Katherine es merkte, behielt sie das Geheimnis für sich. Sie habe gespürt, dass die Boys Talent hätten. Eines Tages riss eine Saite, niemand wusste, wie man sie ersetzte, und so war die Missetat nicht mehr zu vertuschen. Wie befürchtet setzte es gehörig Prügel. Tito verzog sich heulend auf sein Zimmer. Nach einer Weile sei Joe hereingekommen und habe ihm die Gitarre hingestreckt: „Dann zeig mal, was du kannst.“ Als auch noch Jackie und Jermaine hereinkamen und zu singen anfingen, änderte sich Joes Stimmung. Er erkannte, dass ihm bis dahin eine wichtige Seite seiner Familie verborgen geblieben war. Am nächsten Tag brachte er eine brandneue Gitarre nach Hause. Sie war feuerrot und sollte Tito gehören. Auch wollte der Vater die Proben seiner Sprösslinge künftig selber überwachen.
Unterdessen hatte auch der kleine Michael gewisse Talente an den Tag gelegt. Katherine berichtet, wie er mit eineinhalb Jahren mit der Milchflasche in der Hand zum Groove der laufenden Waschmaschine getanzt habe. Schon mit drei Jahren soll er herzzerreißend schön gesungen haben. Mit fünf Jahren erlaubte ihm der Vater, bei der Familiengruppe mitzusingen und – wie der nun ebenfalls in den Kreis aufgenommene Marlon – Bongos zu spielen. Im Herbst 1963 trat Michael in die Kindergartenabteilung der Garnett Elementary School ein. Bald darauf organisierten die Lehrer eine Show, bei der jeder Schüler sein eigenes Stück aufführen sollte. Michael gab die Rodgers-und-Hammerstein „Climb Ev’ry Mountain“ aus dem Musical „The Sound of Music“ zum Besten. „Der Applaus war gewaltig“, schreibt er, „überall sah ich lächelnde Gesichter, viele Leute standen sogar auf, und die Lehrer weinten. Ich konnte es nicht glauben. Ich hatte sie alle glücklich gemacht! Es war ein großartiges Gefühl.“ Ein wenig verwirrt sei er ebenfalls gewesen: „Ich hatte nicht das Gefühl, ich hätte etwas Besonderes geleistet. Ich hatte ja nur gesungen, wie ich das daheim jeden Abend tat. Auf der Bühne erfasst man nicht, wie man klingt oder wie der Auftritt rüberkommt. Man tut bloß den Mund auf und singt.“ Wenig später setzte der zwölfjährige Jackie durch, dass Michael statt Jermaine Lead-Sänger bei den Jackson Brothers wurde.
Es ist eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit der Popgeschichte, dass es sich bei zwei Gruppen, welche auf quasi archetypische Weise die Hoffnungen und Möglichkeiten des „American Dream“ verkörpern, um Familientruppen handelte, die von brutalen Vätern regelrecht zum Erfolg geprügelt wurden. Denn so, wie Joseph Jackson in Gary, Indiana, Anfang der 60er Jahre mit dem Gürtel auf seine Söhne eindrosch, wenn diese den rechten Ton nicht erwischten, kannte Murry Wilson in Hawthorne, Kalifornien, in den 50ern keine Gnade, wenn seine Söhne, die späteren Beach Boys, nicht spurten. Beide Väter meinten, nur das Beste zu wollen für ihre Söhne, und konnten später auf eine stolze Hitparadenbilanz verweisen, wenn jemand ihre Verdienste anzweifelte.
Beide Väter fügten aber den begabtesten Talenten in ihrer Familie bleibenden Schaden zu. Im Falle von Brian Wilson waren es nicht nur psychische Schäden, sondern auch physische: Mit sechs Jahren wurde er von Murry dermaßen verprügelt, dass er auf seinem rechten Ohr praktisch taub wurde und so nie die Stereoeffekte seiner Produktionen genießen konnte. Vater Jackson fügte keinem seiner Söhne einen bleibenden körperlichen Schaden zu, aber das war eher Glücksache. Marlon Jackson erinnert sich an eine besonders traumatische Episode, in der Joseph den dreijährigen Michael am Fußgelenk in der Luft zappeln ließ, um mit der freien Hand endlos auf ihn einzuschlagen. Als der Vater Michael endlich gehen ließ, habe dieser geschrieen „I hate you!“ – worauf er gleich noch mal drangekommen sei, noch härter und noch länger. Ein anderes Mal sperrte Joseph den aufmüpfigen Michael stundenlang in einen Schrank. Am häufigsten sei Marlon drangekommen, erklärte ein von der Erinnerung immer noch über den Rand der Selbstbeherrschung hinausgetriebener Michael in „Living With Michael Jackson“, dem Dokumentarfilm von Martin Bashir: „Mir ging es nicht so schlecht“, sagte Michael dort, „denn ich wurde von Joseph als Exempel hingestellt.“ Ihm sei es leichter gefallen als den anderen, die Töne zu erwischen und die Tanzschritte auszuführen. „Aber Marlon, der Arme, der kam am häufigsten dran. Er gab sich ja solche Mühe, wahnsinnige Mühe. Und immer wieder sagte Joseph: „Mach’s wie Michael!“ Und wenn er es nicht schaffte, kam der Gürtel. Es war hart. So hart!“
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