Inzwischen hatte Daniel Miller amerikanische Visa für die Band beantragt und war dabei auf ein Problem gestoßen – Dave Gahans Jugendstrafregister war es wider Erwarten nicht, aber nun kam heraus, dass Alan Wilder wegen Ladendiebstahl vorbestraft war, wovon er bei seiner Einstellung nichts gesagt hatte. „Als ich siebzehn oder achtzehn war, stahl ich mit meiner Freundin ein paar Lebensmittel, weil wir völlig pleite waren, und dabei wurden wir erwischt“, gestand er zwanzig Jahre später.
Das Problem ließ sich aber ausräumen, und so spielte die Band am 22. und 23. Januar zwei Gigs im New Yorker Ritz. Beide Auftritte waren gut besucht dank des Underground-Erfolgs von „Just Can’t Get Enough“ und nicht zuletzt auch wegen des Enthusiasmus von Seymour Stein. Speak And Spell kam in den USA offiziell im Frühling 1982 heraus und schaffte es, in den Top 200 auf Platz 192 zu „kriechen“. Das Album erntete jedoch gemischte Kritiken, weil die Amerikaner „Rockdynamik“ vermissten. Die an Kraftwerk erinnernde Kombination von synthetischer Reinheit und eingängigen Popmelodien gefiel zum Beispiel nicht der Trouser Press: „Depeche Mode benutzen kommerzielle Songrezepte mit fast unfehlbarer Präzision. Drei Minuten davon können ganz vergnüglich sein, mehr jedoch zwingt einem die Erkenntnis von deren Begrenztheit auf. Die simple und voraussagbare Tonpalette (nur Synthesizer) erhöht die Schwierigkeiten.“
Die Gruppe kehrte genau zum Zeitpunkt des Erscheinens ihrer vierten Single am 29. Januar 1982 nach England zurück. „Das ist ein richtig schöner, schmusiger Song“, fand Gahan. „Es war das erste rein elektronische Stück.“ Obwohl „See You“ nicht gerade einer ihrer besten Songs ist, war er doch von entscheidender Bedeutung, denn er erreichte mit Platz 6 die bis dahin höchste Position in den Charts – und das ohne Hilfe von Vince Clarke, der ihnen nach seinem Abschied noch einen neuen Song angeboten hatte, „Only You“. Sie hatten ihn mit der Begründung abgelehnt, er klinge allzu sehr wie ein anderes Stück, und Clarke zog beleidigt ab. Später landete er mit „Only You“ und seinem neuen Projekt Yazoo einen Nummer-2-Hit.
„See You“ beeindruckte die Beobachter sehr. Aber zu diesem Zeitpunkt durchliefen Depeche Mode eine seltsame Übergangsphase. Die deftigen, missmutigen Keyboardtöne von „See You“ passten nicht recht zum schrecklich banalen Teenagertext. Die Popneulinge wussten außerdem noch immer nicht, wie sie sich oder ihre Musik präsentieren sollten. Manchmal trugen sie einfache Anzüge, dann wieder Pullover, und schließlich waren sie auch mal in Leder gekleidet. Bei einer Fotosession zeigten sie sich gar im weißen Cricketdress und hielten Schläger in den Händen. Der magere, rothaarige Fletcher denkt zurück: „Nach 1982 fingen wir an, einfach ganz normal aufzutreten: Was wir auf der Bühne trugen, war unsere Alltagskleidung. Es war stets ein Problem für uns, kein definitives Image zu haben. Wir wirken zu prätentiös, wenn wir versuchen, etwas zu tun oder zu tragen, was uns nicht entspricht. Aber wenn wir uns ganz natürlich geben, wirken wir ziemlich anonym. Die Band mit dem besten Image in der Welt sind Pink Floyd – eine wahrhaft gesichtslose Gruppe.“
Ein anderes Problem war die ideologische Verwirrung im Depeche-Mode-Kader über die etwaige Nutzung solcher „Wertlosigkeiten“ wie Teenmagazine und Kinderfernsehen – und auf der anderen Seite das wachsende Verlangen, die Karriere der Band mithilfe von Wochenmagazinen wie dem NME und dem Melody Maker und glaubwürdigeren Musikprogrammen aufzubauen. Daniel Miller stellte Chris Carr als Pressesprecher ein, woraufhin die Gruppe eine ähnliche Publicity wie Siouxsie and The Banshees oder The Associates bekam. Carr wusste sehr wohl um das Imageproblem von Depeche Mode. Immerhin gab es schon wegen ihrer farblosen Musik ein Spott- und Schmähgedicht des Punkpoeten Attila the Stockbroker: „Nigel Wants To Go And See Depeche Mode“. „Ich fand viele ihrer frühen Songs einfach grauenhaft“, sagt Carr, womit er nicht allein stand. „Als Band waren sie wirklich schlapp, echte Luschen. Sie waren so unsicher, wer sie wirklich waren und wie sie erscheinen sollten. Nach dem Weggang von Vince kam ein Punkt, an dem wir uns plötzlich darüber klar wurden, dass wir mit dieser Gruppe etwas in der Hand hatten, was gesteuert und in die richtige Richtung gelenkt werden musste, wenn wir es nicht verlieren wollten. Also suchten wir die seriöse Bestätigung ihres Werts durch den NME. Auf der anderen Seite gab es ihren Radiopromoter Neil Ferris und den Sender Radio One, die für Depeche Mode Dauerwerbung machten.“
Wie Gore bestätigt, hatte die Band kaum einen Begriff von ihrem Image und nur wenig Kontrolle: „Als Speak And Spell 1981 herauskam, waren wir achtzehn Jahre alt. Wir waren jung und naiv, wir hatten einfach keine Ahnung. Von einem Tag zum anderen wurden wir ins Fernsehen geholt und der Presse präsentiert, und damals dachten wir, wir müssten jedes Interview geben, um das man uns bat, und wir machten uns keine großen Gedanken um unser Image. Wir brauchten lange, bis wir wirklich begriffen, was Sache war, wie wir unser Image in den Griff bekommen konnten und was wir der Welt mitteilen wollten.“
Alan Wilder erinnert sich an seine ersten Auftritte im Fernsehen mit unverhohlenem Schauder: „Das Schlimmste war die Show, die wir in Alton Towers abziehen mussten. Da mussten wir zu einem Song in den Gärten flanieren und so tun, als ob wir sängen. Wir hatten die Hände in den Hosentaschen und total scheußliche Klamotten an. Das war der übelste Moment von Depeche Mode.“
Nach dem ersten Top-10-Erfolg fing die Band mit den Proben für ihre zweite britische Tournee im Februar an. „An dieser Tour war Daniel sehr aktiv beteiligt“, sagt Wilder, der nun vom Mute-Chef auch mehr in die Synthesizer- und die elektronische Musik eingeweiht wurde. „Er hatte viel vom analogen Sound auf Speak And Spell programmiert, und er programmierte auch alle Keyboards für die Auftritte auf der Tournee. Wir probten in den Blackwing-Studios, wo wir das Vierspurbandgerät und zwei Lautsprecher vor uns aufstellten, die Tapes des Albums abspielten und dazu drei Keyboards bedienten. Martin sagte mir, welche Teile der Musik ich auf meiner ersten Tour zu spielen hatte – und das war eigentlich schon alles.“
Am 10. Februar 1982 spielten Depeche Mode zunächst in der Sendung In Concert von Radio One, ehe sie zum offiziellen Auftakt der Tournee im Top Rank in Cardiff auftraten. Die Fünfzehn-Tage-Tour durch ganz Großbritannien entwickelte sich zu einer wahren Orgie an Teenagerhysterie; die zwei Konzerte im Londoner Hammersmith Odeon waren ausverkauft. Gahan, der im Mittelpunkt der Bewunderung stand, erlebte zum ersten Mal die hemmungslose Verzückung und das Gekreische der Teenies, die über ihn herfielen, als er sich im Londoner Camden Palace zeigte: „Die haben mich beinahe in Stücke gerissen, es war beängstigend. Ich wurde sofort umringt und konnte kaum entkommen. Sie grapschten nach mir, rissen an meinen Klamotten, zerrten mich an den Haaren – ich bekam solche Angst, dass ich davonrannte und mich im Klo versteckte. Es war eines meiner schlimmsten Erlebnisse – diese Kids können einen umbringen.“
Auch Wilder erzählt: „Die Reaktion der Fans war einfach überwältigend. Wir kamen auf die Bühne und fingen an, unsere simplen Popsongs zu spielen – und schon drehte das Publikum völlig durch. Da wusste ich, dass das nicht einfach nach einer Nacht vorbeigehen würde.“ Der angeheuerte Wilder hatte nun reichlich Gelegenheit, sich mit seinen neuen Kollegen anzufreunden, nachdem er bei der Einspielung von „See You“ noch nicht dabei gewesen war. „Auf diese Tour nahmen sie alle ihre Freundinnen mit“, erinnert er sich. „Dave wurde richtig fett, denn er saß immer im Tourbus zusammen mit Joanne, und sie stopften pausenlos Mars-Riegel und andere Süßigkeiten in sich hinein. Alle hatten ihre Wollpulloverphase, als ich sie kennenlernte. Ich war als Neuling natürlich lieb und nett zu ihnen, aber eben auch ein bisschen normaler und lebenserfahrener.“ Grinsend kommentiert Daryl Bamonte: „Auch Alan trug damals ständig Pullis, und er hatte immer einen lächerlichen, endlos langen Doctor Who-Schal um, den wir alle nicht ausstehen konnten. Den haben wir ihm geklaut und weggeschmissen.“
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